J.D.SALINGER Neun Erzählungen
sie hinzu: »Seit er zwei war, ist er regelmäßig losgezogen. Aber nie sehr weit. In der Stadt jedenfalls ist er, glaube ich, nicht weiter als bis zur Mall im Central Park gekommen. Nur zwei Straßen von zu Hause weg. Das am wenigsten Weite – oder Kürzeste – war die Eingangstür unseres Hauses. Da stand er, um sich von seinem Vater zu verabschieden.«
Beide Frauen am Tisch lachten.
»Die Mall ist das, wo sie in New York alle Schlittschuh laufen«, sagte Sandra sehr umgänglich zu Mrs Snell. »Die Kinder und so.«
»Oh!«, sagte Mrs Snell.
»Da war er erst drei. Es war erst letztes Jahr«, sagte Boo Boo und zog aus einer Seitentasche ihrer Jeans eine Schachtel Zigaretten und ein Briefchen Streichhölzer. Sie zündete sich eine an, wobei die beiden Frauen ihr inte r essiert zusahen. »Große Aufregung. Für die Suche nach ihm war die gesamte Polizeitruppe im Einsatz.«
»Haben sie ihn gefunden?«, fragte Mrs Snell.
»Aber natürlich!«, sagte Sandra verachtungsvoll. »Was glaubst du denn?«
»Sie haben ihn nachts um Viertel nach elf gefunden, mitten im – mein Gott, Februar, glaube ich. Kein Kind im Park. Nur Räuber, nehme ich an, und eine Ansammlung herumstromernden Gesindels. Er saß im Musikpavillon auf dem Boden und rollte eine Murmel auf einer Ritze hin und her. Halb erfroren, und wie er aussah – «
»Heiliger Strohsack!«, sagte Mrs Snell. »Wie ist das denn passiert? Ich meine, weshalb ist er denn weggelaufen?«
Boo Boo blies einen einzelnen fehlerhaften Rauchring gegen eine Glasscheibe. »An dem Nachmittag war irgendein Kind im Park mit der träumerischen Fehlinformation › Du stinkst, Kleiner ‹ zu ihm hingegangen. » Wenigstens glauben wir, dass er es deshalb gemacht hat. Ich weiß auch nicht, Mrs Snell. Das ist mir alles eine Spur zu hoch.«
»Wie lange macht er das denn schon?«, fragte Mrs Snell. »Ich meine, wie lange macht er das denn schon?«
»Also, im Alter von zweieinhalb Jahren«, sagte Boo Boo biografisch, »flüchtete er unter ein Spülbecken im Keller unseres Hauses. In der Waschküche. Naomi Sowieso – eine enge Freundin von ihm – hatte ihm gesagt, in ihrer Thermosflasche sei ein Wurm. Jedenfalls war das das Einzige, was wir aus ihm rausgekriegt haben .«
B oo Boo seufzte und trat mit einer langen Asche an ihrer Zigarette vom Fenster weg. Sie ging Richtung Fliegentür. »Ich versuch’s jetzt noch mal«, sagte sie als Abschiedsgruß an beide Frauen.
Sie lachten.
»Mildred«, wandte sich Sandra, noch immer lachend , an Mrs Snell, »du verpasst noch deinen Bus, wenn du nicht in die Puschen kommst.«
Boo Boo zog die Fliegentür hinter sich zu.
Sie stand auf dem leicht abfallenden Rasen vorm Haus, im Rücken die tief stehende, stechende Nachmittagssonne. Ungefähr zweihundert Meter vor ihr saß ihr Sohn Lionel auf der Heckbank des Dingis seines Vaters. Angebunden und ohne Haupt - und Klüversegel trieb das Dingi in einem perfekten rechten Winkel vom äußeren Ende des Anlegers weg. Ungefähr fünfzehn Meter dahinter trieb mit der Unterseite nach oben ein verlorener oder abgelegter Wasserski, aber auf dem See waren keine Vergnügungsboote zu sehen, nur das Heck der Bezirksbarkasse auf der Fahrt zum Anleger Leech. Boo Boo fand es eigentümlich schwierig, Lionel fest im Blick zu behalten. Die Sonne war zwar nicht besonders warm, dabei aber so leuchtend, dass sie jedes entferntere Bild – einen Jungen, ein Boot – beinahe so schwankend und lichtbrechend wie einen Stock im Wasser erscheinen ließ. Nach ein paar Minuten wandte sich Boo Boo von dem Bild ab. Sie zerrupfte ihre Zigarette wie beim Militär und ging dann Richtung Anleger.
Es war Oktober, und die von den Anlegerplanken reflektierte Hitze konnte ihr nicht mehr ins Gesicht schlagen. Beim Gehen pfiff sie »Kentucky Babe« durch die Zähne. Als sie das Ende des Anlegers erreichte, hockte sie sich mit knackenden Knien an der rechten Kante hin und schaute zu Lionel hinab. Er war weniger als eine Ruderlänge von ihr entfernt. Er schaute nicht auf.
»Ahoi«, sagte Boo Boo. »Freund. Pirat. Dreckiger Hund. Da bin ich wieder.«
Lionel blickte noch immer nicht auf und fühlte sich jäh b erufen, seine Segelkünste zu demonstrieren. Er schwenkte die leblose Ruderpinne ganz nach rechts und riss sie gleich darauf zu sich zurück. Den Blick hatte er nur auf das Bootsdeck gerichtet.
»Ich bin’s«, sagte Boo Boo. »Vizeadmiral Tannenbaum. Geborene Glass. Bin gekommen, um die Stermaphoren zu inspizieren.«
Nun gab es
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