Je länger, je lieber - Roman
ein paar Wochen besorgt hatte, damit sie bequem lag. Ihre Augen waren geschlossen, die Arme lagen ausgestreckt auf der Bettdecke, und ihr silbriges, lockiges Haar kringelte sich wie Quecksilber um ihr Gesicht. Auf dem Nachtschränkchen drängten sich vor dem gerahmten Foto ihres verstorbenen Mannes Gustav Pillenschachteln und Fläschchen mit allen möglichen Tropfen. Mimi flüsterte. »Schläft sie?«
»Wie ein Baby.« Der Arzt setzte seinen sandfarbenen Hut auf sein schütteres Haar. »Wenn Sie können, bleiben Sie besser über Nacht hier. Man weiß ja nie, was sie als Nächstes im Schilde führt.«
»Das mache ich.« Mimi reichte ihm die Hand. »Haben Sie vielen Dank, und grüßen Sie Ihre Frau. Ich hoffe, wir werden Sie so schnell nicht wieder rufen müssen.«
»Ja, bitte! Bläuen Sie das Ihrer Großmutter ein. Meine Frau und ich sind auch nicht mehr die Jüngsten. Obwohl, im Vergleich zu Clara sind wir geradezu Kindergartenkinder. Zwanzig Jahre! Zwanzig Jahre, die uns voneinander trennen! Was für eine lange Zeit auf dieser verrückten Welt!«
Nachdem der alte Mann in seinen fast ebenso alten Mercedes gestiegen, und die Allee Richtung Wald hinuntergetuckert war, drückte Mimi leise die Tür ins Schloss. Rund ums Haus rauschten die Baumkronen. Über ihr, im ersten Stock, kratzten die Äste über die Fensterscheiben. Sonst war es still.
Nachdem sie ein letztes Mal vergeblich versucht hatte, René zu erreichen, schlich sie in den Salon und setzte sich zu Clara auf die Bettkante. Sollte es sie beunruhigen, dass ihr Mann nicht ans Telefon ging? Konnte ihm etwas passiert sein? Hatte er sich am kaputten Toasterkabel einen Schlag geholt? Sollte sie besser nach Hause fahren und sich davon überzeugen, dass er wirklich über der Arbeit eingeschlafen war? Unschlüssig blickte Mimi hinüber zum Bilderrahmen, in dem das ausgeblichene Foto ihres Großvaters klemmte. Er war kurz nach ihrer Geburt bei einem Treppensturz in der Halle gestorben. Seitdem schlief ihre Großmutter nie ein, ohne sein Bild zu küssen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Eigentlich wollte Mimi genau das ihrem Mann sagen. »Ich liebe dich.«
Jetzt glitt ihr Blick zurück zu Claras Gesicht. Wie friedlich sie dalag. Wie eine Frau, die wusste, dass sie ihr Leben lang geliebt worden war. Um ihren Mund war ihr unverwechselbar spitzbübischer Zug zu erahnen. Sie hatte das Leben leicht genommen. Oder das Leben hatte es ihr leicht gemacht. Jedenfalls hatte Clara nie etwas anderes berichtet.
Zärtlich nahm Mimi die mit Altersflecken besprenkelte Hand in ihre. Voller Liebe und Mut hatte Clara damals alles versucht, um Mimi den Verlust ihrer Eltern zu erleichtern, obwohl Clara selbst ihren einzigen Sohn durch die Flugzeugkatastrophe verloren hatte. Einen Schlag, den sie, anders als Mimi, scheinbar unbeeindruckt hingenommen hatte.
Jetzt erst sah Mimi, dass Claras Finger ein kleines Holzkistchen umklammerten. Damit es nicht zu Boden fiel und das Poltern ihre Großmutter erschreckte, entwendete Mimi es behutsam ihrem erstaunlich festen Griff. Es war ein kleiner goldener Kompass, versteckt in einem feinen Gehäuse aus Kirschholz. Mimi war nicht ganz sicher, ob sie es sich einbildete oder nicht. Doch als sie von der Bettkante aufstand, meinte sie, ihre Großmutter leise den Namen »Jacques« flüstern zu hören. Als sie sich den Lippen ihrer Großmutter näherte und leise fragte: »Was hast du gesagt?«, kam jedoch keine Antwort. Offenbar hörte Mimi vor Müdigkeit Stimmen.
Das Kistchen mit dem Kompass nahm sie mit hinauf ins erste Stockwerk, in ihr altes Jugendzimmer, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern gewohnt hatte. Nun war auch sie in das Museum ihrer Kindheit zurückgekehrt.Dort stellte sie das Kästchen auf den Nachttisch und beschloss, sich keine Sorgen um René zu machen. Wenn er irgendwann mit dem Gesicht auf der Computertastatur aufwachte, würde er als allererstes versuchen, Mimi zu erreichen und erleichtert sein, dass ihr nichts passiert war, obwohl sie in dieser Nacht nicht neben ihm geschlafen hatte.
3
Waldblütenhain, 2013
Nach nur fünf Stunden Schlaf wurde Mimi vom Handyklingeln aus ihrem Traum gerissen, in dem sie eine Reihe von Männern abgeschritten war und jeden von ihnen gefragt hatte: »Sind Sie Jacques?« Mit geschlossenen Augen tastete sie nach dem Gerät und stieß dabei das Kästchen mit dem kleinen goldenen Kompass hinunter. O nein! Nun war genau das passiert, was sie hatte verhindern wollen: dass er hinunterfiel. Sie warf
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