Je länger, je lieber - Roman
einen verschlafenen Blick aufs blinkende Display. Es war nicht, wie erhofft, ihr Mann, der wissen wollte, wo sie war, sondern die Galerie. Obwohl sich ihr gesamter Körper so schwer anfühlte, als wäre er mit Beton ausgegossen und sie noch gar nicht richtig wach, nahm Mimi ab. »Was ist denn?«
»Wo bist du?« Wenigstens fragte sich das ihre Assistentin Alice.
»Im Bett.« Mimi richtete sich auf. »Wie spät ist es?«
»Zwanzig nach sieben.«
»O Mist!« Durch die gehäkelten Gardinen flimmerte das Sommerlicht zu ihr herein und breitete sich wie ein silberner Teppich über die ausgetretenen Dielen aus. Amselgezwitscher flatterte um sie herum wie tausend kleine Schmetterlinge. Sofort wurden sie durch Alices aufgeregtes Wispern vertrieben. Es klang, als würde sie die Sprechmuschel mit beiden Händen umklammern.
»Die Wrights werden langsam unruhig. Ihr Flieger geht in zwei Stunden. Soll ich sie zum Flughafen fahren?«
»Ja.« Mimis Blick blieb an dem antiken Sessel hängen, auf dem ihr Cocktailkleid wie ein trauriges Häufchen lag. »Bring sie hin. Ich komme so schnell wie möglich nach.« Wie hatte sie verschlafen können? Hatte sie tatsächlich vergessen, den Wecker zu stellen? Ihr Anspruch war es, zu hundert Prozent verlässlich zu sein und all das, was zu erledigen war, pünktlich und souverän hinzubekommen. Egal, wie viel es war. Und amerikanische Kunstsammler zum Flughafen bringen hatte oberste Priorität. Sie schlüpfte in ihr nicht mehr ganz frisches Cocktailkleid und lief die Treppe hinunter.
In der Halle war Margarete schon mit dem Staubsauger zugange. Erschrocken drehte sich die hagere Frau mit dem schmalen Gesicht um, als Mimi Richtung Salon an ihr vorbeihuschte. Wie immer trug sie ihren hellblauen Kittel mit einer weißen Schürze darüber und die grauen Haare zu einem Dutt gebunden. Als wäre sie, genau wie die gesamte Einrichtung, ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. »Meine Güte, haben Sie mich erschreckt. Ich wusste gar nicht, dass Sie noch hier sind.« Eilig stellte sie den Staubsauger ab und richtete sich mit ihren langen Gliedmaßen wie eine Marionette auf.
»Wie geht es Clara? Ist sie schon wach?«
»Sie frühstückt gerade.«
Mimi lief durch die offene Flügeltür in den Salon. Die schweren Samtvorhänge waren beiseitegezogen, und das Zimmer mit den dunklen Möbeln, dicken Teppichen und farbenfrohen Ölgemälden wurde von der Morgensonne erhellt.
Clara sah ihr über den Rand der Teetasse erstaunt entgegen. »Kindchen, was machst du denn hier? Hat Margarete dich gestern Nacht wieder gerufen?« Ihre grauen Locken standen in alle Himmelsrichtungen ab. Sie stellte die Teetasse aufs Tablett, das vor ihr auf der Bettdecke lag. »Das soll sie doch nicht machen. Du hast genug um die Ohren.«
Mimi beugte sich zu ihrer Großmutter hinunter und gab ihr einen Kuss. »Fühlst du dich wieder besser?«
»Es war doch nur ein kleiner Aussetzer des Herzens, nichts weiter, Kindchen.« Mit zittriger Hand griff Clara nach einem Eckchen Toast und strich sorgfältig Marmelade darauf. »Aber du siehst etwas blass aus. Geht’s dir nicht gut?«
»Alles bestens. Ich muss nur schnell zum Flughafen, ein paar Käufer aus den USA verabschieden.« Mimi blickte auf ihre Armbanduhr. »Und danach hab ich noch zwei, drei Termine in der Stadt und muss Renés Smoking aus der Reinigung holen. Er hat doch heute Abend seine Preisverleihung. Aber ich komme morgen wieder, um nach dir zu sehen«
»Fahr bloß vorsichtig, mein Kind.« Clara hielt Mimi fest an der Hand und blickte sie auf einmal durchdringend an. »Noch eine Sache: Ich vermisse meinen Kompass. Ich hatte ihn mir gestern Nacht von Doktor Medler aus der Schublade geben lassen, und nun ist er weg. Hast du ihn zufällig irgendwo gesehen?«
Mimi nickte irritiert. »Den habe ich dir vorsichtshalber aus der Hand genommen, nachdem du eingeschlafen warst. Damit er nicht herunterfällt. Er liegt oben. Soll ich ihn dir noch schnell holen?« Sie hatte in der Eile ganz vergessen nachzusehen, ob er beim Herunterfallen kaputtgegangen war.
Clara schüttelte den Kopf. »Es reicht, wenn du ihn mir bringst, wenn du wieder da bist. Aber vergiss es nicht.« Sie drückte Mimis Hand noch einmal fest. »Denn er bedeutet mir sehr viel.«
»Sicher.« Mimi lächelte. »Ich vergesse es nicht.« Was hatte es mit diesem Kästchen auf sich? Sie hatte den Kompass noch nie bei ihrer Großmutter gesehen. War er ihr heute Morgen aus Unachtsamkeit zerbrochen? Sie würde später
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