Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Sie sagt, er soll sie in Ruhe lassen. Er sagt, sie soll ihn jetzt nicht so an die Wand stellen. Er habe bei ihr nur alles richtig machen wollen, weil er noch nie etwas richtig gemacht habe in seinem Leben, nur deshalb habe er Jonas’ Tagebuch gelesen und sei in seine Rolle geschlüpft.
»Hast du mich denn nur wegen Jonas geliebt?«, hinterlässt er auf ihrer Mailbox.
»Ja!«, möchte sie herausschreien, aber das kann sie ihm nicht antun.
»Du kannst ihm alles antun«, sagt Charly am nächsten Morgen in der Schule. »Was hat er dir denn angetan? Er hat dich für sich benutzt, mehr als du ihn. Du standest unter Schock. Warst ja überhaupt nicht mehr zu gebrauchen. So was nutzt man nicht aus.«
Charly hat die Nacht bei Leon Haase verbracht und mit ihm geschlafen. Sie ist noch ganz taumelig von ihrer Entjungferung.
»Eigentlich bin ich jetzt nicht in der Stimmung, um feministische Ratschläge zu geben«, sagt sie und grinst. Sie sieht übernächtigt aus, blass und glücklich. Endlich hat es bei ihr mal gefunkt! Sie geht Arm in Arm mit Julia über den Schulhof. »Das Leben ist echt crazy. Absolut crazy, findest du nicht?«
Julia kann es nicht fassen. Solche Worte von Charly! »Dein Dopaminspiegel scheint ja rapide gestiegen zu sein. – Seit wann läuft da denn was zwischen Leon und dir?«
»Seit der Führerschein-Party, du Nullchecker.« Charly kneift sie in den Hintern. Julia springt von ihr weg. »Trotzdem kann ich noch klar denken, obwohl ich mich ein bisschen wie ein Wasserstoffatom fühle.«
»Ach ja. Interessant. Und wie fühlt sich das an?«
»Bei einem Wasserstoffatom ist alles ganz überschaubar, denn da umkreist nur ein einzelnes Elektron ein einzelnes Proton. Alles unterliegt dabei den exakt bekannten Gesetzen der Quantentheorie und lässt sich auf jede Menge Nachkommastellen genau berechnen.«
»Wie romantisch. – Und was willst du mir damit sagen?«
»Dass die Welt um uns herum nicht so überschaubar ist wie ein Wasserstoffatom. In unserer Welt wechselwirken eine Menge Bestandteile auf ganz unterschiedliche – meist nicht genau bekannte – Weise miteinander. Dadurch wird die Sache komplex, denn im Zusammenspiel bekannter Akteure bilden sich plötzlich völlig neue Phänomene, wie Sternensysteme, Lebewesen, das Wetter und unsere Gesellschaft.«
Julia pfeift durch die Zähne. »Ich hab’s ja immer gesagt, du bist nobelpreisverdächtig!«
»Und Wetter und Gesellschaft machen uns zu schaffen, denn wir werden günstig und ungünstig von ihnen beeinflusst«, fährt Charly fort.
»In deinem Fall günstig , nehme ich an. Die Sonne scheint und du bist total verknallt!«
»Ach Julia.« Charly lacht und küsst sie auf die Wange. »Wie konnte das nur passieren?«
Julia schmunzelt. »Ganz logisch: Amor hat auf dich geschossen und dich mit seinem Pfeil direkt ins Herz getroffen.«
»Das reimt sich sogar.«
»Dann stimmt es doppelt.«
»Du hast echt eine umwerfende Logik, Julia! Dafür liebe ich dich.«
Julia lacht.
Charly seufzt sehr laut. »Stell dir vor, er nennt mich: mein kleines Wasserstoffatom.«
»Wie süß!« Julia freut sich so für Charly. Ihr Handy klingelt. Es ist Kolja. Diesmal hat sie ihr Handy an und sie nimmt ab, will es kurz machen. Kolja möchte in Ruhe mit ihr sprechen. Das könne sie ihm nicht länger verwehren. »Okay«, sagt sie. »Dann komm um 15 Uhr zu mir.« – Um die Zeit ist Mama sicher da. Gut, denn sie möchte nicht allein mit ihm sein.
Aber dann steht Kolja bereits bei Schulschluss am Fahrradstand. Sie sieht ihn schon, als sie mit ein paar Schulkolleginnen über den Schulhof geht.
»Heute Nachmittag muss ich zur Uni, was vorbereiten«, sagt er. »Das ist mir erst später eingefallen. Deshalb dachte ich, ich hole dich von der Schule ab.«
Die Wörter »Uni« und »abholen« beeindrucken ihre Kolleginnen ungemein, auch wie cool Kolja aussieht. Er trägt ein enges, schwarzes T-Shirt und eine grüne Sonnenbrille, die wunderbar zu seinen hellblonden Haaren passt. Ihr ist noch nie so aufgefallen, wie gut er eigentlich aussieht. Schlank, muskulös. Blond. Alle Mädchen drehen sich nach ihm um. Schade, dass Charly jetzt nicht bei ihr ist. Sie hat noch Physik.
Julia geht mit ihm auf die Straße, hat die Hände in den Taschen, merkt, dass Kolja sie am liebsten umarmen möchte. Sie rückt ein Stück von ihm ab.
»Wollen wir ein bisschen rausfahren und dann reden?«, fragt er.
»Wir können auch hier reden.« Sie will nicht mit ihm allein sein. Und schon
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