Je mehr ich dir gebe (German Edition)
kann.
Am nächsten Tag ist Charly wieder bei ihr, scheucht Julia hoch, besteht darauf, dass Julia die grüne Schlaghose anzieht und mit rauskommt.
»Du hast es gestern versprochen.«
Julia stellt sich mit der Hippie-Hose vor den großen Spiegel in ihrem Zimmer. Er ist 1,80 Meter hoch und 90 Zentimeter breit, er spiegelt das Fenster wider und verteilt Sonne im Raum. Julia hatte sich den Spiegel letztes Jahr zum siebzehnten Geburtstag gewünscht. Er hat einen goldenen Holzrahmen; über der rechten Ecke hängen Perlenketten. Mit diesem Spiegel hat sie ihr Gesicht erforscht, ihren Körper kennengelernt. Zierliche Nase, graublaue Augen, dünn geschwungene Brauen, volle Lippen. Hals, lang und sehnig, zum Glück keine Neigung zum Doppelkinn. Die Schlüsselbeine stehen ein bisschen vor und geben ihr Eleganz. Gerade Haltung. Die hellbraunen Haare fallen bei Regen wellig, sonst glatt, reichen bis auf die Schultern. Seitenscheitel. Brüste klein mit Spitzen, wie zwei halbe Zitronen. Flacher, durchtrainierter Bauch, muskulöse Arme und Beine. Formschön. Intimrasur: Hollywood-Cut. – Sommersprossen auf den Knien. Kräftige Waden, schmale Füße, virtuose Zehen. Sie kann damit sogar ihre Zahnbürste aufheben.
Julia betrachtet sich in der grünen Schlaghose. Jonas würde sie bestimmt witzig finden und sexy. Sie sitzt eine Handbreit unter dem Nabel. Dort spürt sie seinen Blick auf der Haut, es prickelt. Kann er sie wirklich sehen?
»Passt wie angegossen«, sagt Charly. »Steht dir echt gut. So was Cooles ist nie out!«
»Danke«, sagt Julia und fällt der Freundin um den Hals. Sie wiegen sich, Charly beißt Julia in die Schulter; Julia quiekt – fast so wie früher.
»Bei dem Wetter müssen wir einfach ins Schwimmbad!«
Nun hat Charlotte es doch geschafft.
Die Schlaghose bremst jeden Schritt. Zu viel Stoff knieabwärts, und es ist so saumäßig heiß! Bereits die zweite Hitzewelle in diesem Jahr! Julia ist eh schon schlapp. Sie kann keine Hitze mehr ertragen. Es ist, als lasteten haufenweise Wolldecken auf ihr. Vor der Kasse eine Schlange bis zur Straße, aber sie haben Saisonkarten, drängen sich am Schalter vorbei, durch das Drehkreuz. Es ist ein ganz normaler Sommertag und ein ganz normales Drehkreuz, aber es ist trotzdem alles anders, als wäre sie eine ausgeschnittene Figur, in diese Szenerie geklebt wie in eine Collage. Sie bleibt im Drehkreuz stecken.
»Einfach weitergehen!«, sagt die Bademeisterin gereizt. – Ist sie wirklich so braun?
Charlys Hand in ihrem Rücken drückt sie durch die Sperre und schon fängt der Badespaß an. Blaues Wasser, blauer Himmel und rechts vom Beckenrand liegen die Profi-Bader auf Liegen, die Hände über die öligen Bäuche verschränkt – verkohlte Grillhähnchen mit Stoffhüten über dem Gesicht. Unter der Liege Wasserflasche, Sonnenöl, Tupperware mit Kartoffelsalat. Alles wie immer. Selbst die fetten Jungs sind wieder da und machen Arschbomben.
»Wollen wir nach hinten auf die Wiese gehen?«, fragt Charly. Sie waren seit Jahren nicht mehr auf der Wiese, nur auf der Tribüne, in der Ruhezone. Da gibt es weniger kreischende Kinder und man hat einen guten Beckenüberblick. Charlotte will wohl Rücksicht auf sie nehmen, die Ruhezone meiden, weil sie dort Jonas kennengelernt hat. Charly sollte Psychologin werden. – Plätze, die starke Erinnerungen hervorrufen können, sollten in den ersten Wochen gemieden werden .
Als wenn nicht von überall Erinnerungen herkämen. Da, der nasse Fußabdruck vor ihr, der ist von Jonas. Julia bleibt stehen, schaut, wie der Abdruck langsam in der Sonne verdunstet.
Charlotte denkt bestimmt, sie kann sich nicht entscheiden, ob Wiese oder nicht, sie steht neben ihr und wartet wie auf einen Hund, der sich festgeschnüffelt hat. Charly will sie nicht drängen. Alle behandeln sie, als wäre sie aus chinesischem Porzellan. Gut dass Jonas bei ihr ist!
»Lass uns zu unserem Platz gehen«, sagt Julia und steuert die Tribünen an. Charly sagt nichts. Das ist das Gute an Charly, dass sie in entscheidenden Momenten die Klappe hält.
Unter den Birkenzweigen, die am Rand der Tribüne über den Zaun ragen, ist noch Platz im Halbschatten. Julia legt die Hose zusammen, cremt sich die Beine ein, den Bauch, die Arme, Schultern, das Gesicht. Hält das Gesicht in die Sonne. Es ist, als wäre sie aus einer tiefen Höhle herausgestiegen und das erste Mal wieder am Tageslicht. Dabei geht sie schon seit sieben Tagen wieder zur Schule; vor vier Tagen war die
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