Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Jonas bleibt jung. For ever .
Einmal war sie mit ihrer Oma bei einer Freundin von Oma, Frau Liebig. Sie wohnte schräg gegenüber. Frau Liebig hatte sie zum Kaffee eingeladen, Apfelkuchen, selbst gebacken. An den Wänden hingen Fotos von ihrer Familie. Frau Liebig hatte sieben Geschwister.
»Das ist der Hans, die Inge, Lisbeth, Irmi, Manfred, Kalle und die Margot.«
Sie waren schon alle gestorben, Frau Liebig war als Einzige übrig geblieben. Auch ihr Mann und ihre Freunde waren schon tot. Als Frau Liebig sie später zur Tür brachte und sie verabschiedete, entdeckte Julia ein Foto von einem jungen Mann. Es hing im Flur, über einer Kommode. Er hatte wilde Haare, einen bleistiftdünnen Oberlippenbart und sah ein bisschen verwegen aus. »Wer ist das denn?«, wollte Julia wissen.
»Mein Vater«, hatte Frau Liebig gesagt. – Seltsam, diese alte Frau neben dem jungen Mann auf dem Foto zu sehen, der ihr Vater sein sollte und eher nach ihrem Enkel aussah. Verrückt, wie man jemand zeitlich so überholen kann. Jetzt, mit Blick aus dem Autofenster, denkt sie, dass es ihr später auch so ergehen wird, wenn sie alt und runzlig ist und noch immer ein Foto von ihrem Liebsten an der Wand hat, von Jonas, neunzehnjährig. For ever.
Eine Windböe fegt durch die Baumkronen am Straßenrand. Espenlaub zittert. Alles ist so grün und frisch.
Kolja fährt, schaut auf die Straße. Ein Motorrad heult an ihnen vorbei, schert kurz vor ihnen ein, überholt dann den Vordermann. Allein der Anblick eines Motorrades tut weh.
Es ist Mitte Juni und das erste Mal, dass Julia ausgeht, seit diesem Tag im Mai. Der Tag, an dem Jonas ging, ist wie eine neue Zeitrechnung für sie, ein scharfer Schnitt in ihrem Leben – es gibt das, was davor war, und das, was seitdem ist. Sie hat immer noch das Gefühl, dass danach nichts mehr kommen kann, nur Elend und Qual und die Hoffnung, Jonas nah zu sein. Die Psychologin sagt, sie solle ihr Leben wieder in die Hand nehmen, nicht so passiv sein, sich mehr mit Freunden treffen. Das tut sie ja. Sie war mit Charly im Schwimmbad, sitzt jetzt neben Kolja, nur den Schauspielunterricht hat sie abgesagt.
Ihr kommt es sowieso vor, als spiele sie die ganze Zeit eine Rolle, sich selbst, funktionierend, in der Schule, zu Hause, auch jetzt, im Auto, neben Kolja. Nur kennt sie das Stück nicht. Jede Bewegung könnte die falsche sein. Trotzdem spielt sie gut. Alle sind zufrieden mit ihr, überaus nett, freundlich, rücksichtsvoll, keinen Druck machen , hat die Psychologin gesagt. Julia geht nicht mehr zu Frau Brausen, bringt ja eh nichts, egal, was sie sagt, sie muss nur wieder weinen.
Sie fahren über den Columbiadamm. Die Sonne steht über dem alten Flughafengebäude – eins der größten zusammenhängenden Gebäude der Welt –, von den Nazis erbaut und jetzt unter Denkmalschutz. Gleich geht die Sonne unter. Das Gebäude ist hässlich.
Die Kumpels von Kolja spielen Volleyball. Julia setzt sich ins Gras und schaut zu.
»Hey, wir können noch Verstärkung gebrauchen!«, ruft ein Mädchen und schaut Julia an. Sie ist groß und schlank, ihre braunen, langen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Hi«, sagt Kolja, aber mehr zu den anderen.
»Ich bin Anne«, sagt das Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Sie mustert Julia, guckt auch Kolja so eindringlich an.
»Ach, du auch hier?«, fragt Kolja.
Anne erwidert darauf nichts, sie stellt Julia die anderen vor: »Das ist Heino, Schnalli, Onko und Liv.«
»Hallo!«, sagt Julia und hat schon wieder vergessen, wer wer ist.
Erst will Kolja nicht mitspielen, aber Anne drängt Julia und Julia steht schon auf und zieht ihre Flip-Flops aus. Da steht Kolja auch auf. Aber er macht nicht den Eindruck, als hätte er große Lust dazu. Julia ist mit Anne in einer Mannschaft.
»Geh du doch rüber«, sagt Anne zu Kolja.
»Nö«, sagt Kolja. »Ich spiele lieber mit Julia und nicht gegen sie.«
»Okay«, sagt Anne. »Dann zeig mal, was du kannst.«
Kolja lächelt nicht. Es sieht so aus, als würde er eine Bemerkung runterschlucken, überhaupt scheint er nicht so begeistert zu sein, dass Anne da ist. Warum?
Dann geht es los. Es ist anstrengend, im Sand zu rennen, aber das Spielen tut gut, auch wenn es erst sehr schleppend vorangeht. Es ist, als hingen Gewichte an Julias Armen und Beinen, aber je mehr sie springt und läuft und schlägt, desto mehr kann sie von diesem Beton wegsprengen, der auf ihr drückt und sie in die Knie zwingt. Sie wird immer leichter, ist hier und da
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