Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Geister denke oder an so einen Quatsch, aber ich glaube, dass die Toten eine Weile brauchen, um sich von ihren Lieben zu verabschieden, um dann ihrer Wege gehen zu können. Deshalb erscheinen sie uns in dieser Übergangszeit manchmal.«
»Jonas ist dir erschienen?« Julias Herz schlägt ihr bis zum Hals. Kolja nimmt Julias Gesicht in beide Hände, es ist, als berühre Jonas sie, als seien Koljas Hände nur sein Werkzeug.
»Ich habe von Jonas geträumt«, flüstert Kolja. »Er hat gesagt, ich soll gut auf dich aufpassen. Ich soll bei dir sein. Er möchte nicht, dass du leidest.«
Julia schließt die Augen. Jonas ist da, jetzt, in diesem Moment. Er streichelt ihr mit den Händen über die Augen, die Wangen, den Mund. Julia legt ihren Kopf an seine Schulter. Es ist Koljas Schulter, aber das macht nichts.
Aus der Ferne Stimmen, gedämpft; Wind weht durch ihre Haare. Sie blinzelt in den Himmel; er streichelt ihren Rücken.
»Kleine Julia«, flüstert er. Der Himmel ist dunkelblau wie Tuschwasser und so weit weg. Dort oben ist Jonas und schaut zu ihnen herab. Sie kann ihn atmen hören. Am liebsten würde sie jetzt über die Rollbahn rennen und abheben, zu Jonas fliegen, mit ausgebreiteten Armen, so, wie sie in Träumen fliegen kann. »Er freut sich, dass du nicht mehr allein bist«, flüstert Kolja ihr ins Haar.
KAPITEL 9
In seinen leeren Armen
Sommerferien! Die elfte Klasse wäre geschafft! Sie nimmt das Zeugnis entgegen, ein Blatt Papier mit Zahlen und oben steht ihr Name, ihr Geburtsdatum. Sie hat einen Notendurchschnitt von 2,2. Wenn sie könnte, würde sie sich darüber freuen.
Charlotte fährt allein nach Paris.
»Schade, ich dachte, ich krieg dich doch noch rum«, sagt sie zum Abschied. Sie sind in Charlys Zimmer. Julia sitzt in einem runden Sessel, unter dem Kohlenstoffatom, dem Symbol allen irdischen Lebens. – Gibt es auch molekulare Verbindungen bei denen, die nicht mehr auf der Erde sind? Oder woraus bestehen sie? Sie will Charly fragen, aber Charly ist mit ihren Gedanken schon in Paris. »Was soll ich nur ohne dich in Frankreich machen? Echt scheiße von dir, mich so hängen zu lassen!«
Julia schraubt Wörter aus ihrem Gehirn zum Mund. Sie verlassen ihren Mund wie Seifenblasen, hinterlassen einen bitteren Geschmack: »Ich schaff’s einfach nicht.«
Charly lässt nicht locker. »Doch, Paris wäre genau das Richtige für dich. Da könntest du dich gut ablenken.«
»Ich will mich aber nicht ablenken.«
»Julia, du bist keine trauernde Witwe! Und du kannst langsam ruhig wieder auf den Teppich kommen.«
»Ach Charly, ich habe keinen Bock auf Trubel, auf so viele Leute.«
»Im August ist Paris ganz leer. Die Franzosen haben alle Urlaub und sind am Meer.«
»Charly, bitte, lass mich!«
Gut, dass Charly wegfährt. Vielleicht sieht in zwei Wochen alles schon ganz anders aus. Im Moment kann Julia ihre Energie schwer ertragen. Wenn sie wenigstens mal die Klappe halten würde! Aber nein, sie muss ihr andauernd unter die Nase reiben, dass Julia langsam wieder auf den Teppich kommen soll. Auf welchen Teppich, bitte schön? Wenn es einen fliegenden Teppich für sie geben würde, könnte sie sich darauf treiben lassen. Und Jonas könnte sich neben sie legen und sie würden zusammen durch den Himmel über Berlin schweben.
Wenn sie doch nur endlich diesen Film anschauen könnte, aber sie kriegt ja schon Herzrasen, wenn sie nur ihre Schreibtischschublade aufmacht und die DVD-Hülle sieht. Die Hülle mit dem Sprung. Sie hat auch einen Sprung im Leben.
Abends räumt Julia ihr Zimmer um. Zwei kleine Sessel, ein Tischchen, eine Überseekiste mit alten Spielsachen fliegen raus. Der Teppich auch. Das Holz der Bohlen ist heller, wo er lag, sieht verletzlich aus. Poster tauscht sie auch aus, hängt das Drowning Girl von Roy Lichtenstein auf, das sie sich vor Kurzem bei einer Pop-Art-Ausstellung im Museumsshop vom Hamburger Bahnhof gekauft hat, und nimmt ein paar alte Filmhelden ab. Johnny Depp lässt sie hängen, Meryl Streep und Cate Blanchett auch. Das sind so schöne Frauen, klug und taff und entschlossen! Sie hängen nun neben Ben Afflek, Leá Seydoux und der starken Jennifer Lawrence. Könnte Julia doch auch nur so stark sein. Dann … – Ja, was dann? Könnte sie dann besser mit Jonas’ plötzlichem Verschwinden klarkommen? Kann Stärke über Verlust hinwegtrösten und Schmerz auslöschen? Und wie wird man so stark? Julia ist sich in ihrem ganzen Leben noch nie so schwach vorgekommen wie jetzt. Manchmal
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