Je mehr ich dir gebe (German Edition)
doch mit nach Paris!«, hatte Charly sie gestern noch bekniet. Mama und Papa würden ihr sofort den Flug bezahlen, auch wenn er – so kurzfristig gebucht, arschteuer sein würde. Für ihre Eltern war die Hauptsache, dass sie wieder mit den Füßen auf den Boden kam. Dafür war ihnen alles recht.
Anne sieht sie an und wartet auf eine Antwort, aber sie hat die Frage gar nicht mitgekriegt. Anne fragt noch mal: »Was du in den Sommerferien machst?«
Kolja steht mit Heino am Grill und sieht zu ihnen herüber. Sein Blick ist wachsam, als sei er auf der Hut vor etwas.
Julia zuckt mit den Schultern. Eigentlich wollte sie mit Jonas nach Holland fahren, mit dem Motorrad, und zelten. Darüber will sie aber nicht reden.
»Ich bleibe hier«, sagt sie leise.
»Ich auch«, sagt Anne. »Ich habe Sinnvolleres zu tun.«
Julia stutzt. Hat Anne gerade gesagt, sie habe »Sinnvolleres« zu tun? Was meint sie damit?
Anne fischt eine Visitenkarte aus einem silbernen Kartenspender und drückt sie Julia in die Hand. »Wir können uns ja mal treffen, Eis essen oder so was. Meld dich. Es gibt bestimmt einiges zum Quatschen.«
Julia liest: Anne Richter, Medium, Windscheidtstraße 73 .
Sie steckt die Karte ein. Kolja bietet die ersten Würstchen an, schneidet sie auf Wunsch sogar in Stücke.
Medium – das Wort geht Julia durch den Kopf. Medium. Was soll das denn heißen? Sie traut sich nicht, Anne zu fragen, obwohl Anne sie immer noch herausfordernd anguckt, als würde sie nur darauf warten, dass Julia endlich fragt.
»Vielleicht fahre ich auch mit meiner Freundin nach Paris«, hört sich Julia sagen. Anne nickt, guckt, als glaubte sie ihr nicht. Julia fühlt sich durchschaut. Wieso eigentlich? Außerdem kennt sie Anne doch gar nicht. Kolja wirft Anne einen Blick zu, so hochdosiert, dass man lieber nicht die Hand ins Blickfeld halten möchte. Was geht hier vor?
Das Würstchen schmeckt gut. Der frische Salat auch. Liv hat sogar das Fladenbrot selbst gebacken. In Julias Armen kribbelt und sticht es, als wären sie eingeschlafen und nun aufgewacht. Sie reibt sich über die rote Haut. Sie würde ja zu gern wissen, was mit Medium gemeint ist. Wahrscheinlich wissen es alle, nur sie nicht.
Kolja setzt sich neben Julia, schaut auf ihre Arme, streicht über die roten Stellen. »Du hast eine sehr empfindliche Haut«, sagt er. Seine Finger sind weich und kühl.
»Ich habe schon lange nicht mehr Volleyball gespielt.«
»Dafür warst du aber sehr gut!«, mischt sich Anne ein. Sie scheint alles mitzukriegen, obwohl sie sich gerade mit Liv unterhalten hat. Vielleicht hat sie als Medium ja ein drittes Ohr oder sonstige Antennen.
»Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen?«, schlägt Kolja vor. Julia hat noch Salat auf dem Pappteller – egal.
»Ja. Gute Idee.« Sie stehen auf. Die anderen bleiben auf der Decke, gucken in den Himmel. Der große Dünne aus der anderen Mannschaft – Schnalli oder wie er heißt – hat einen Joint gedreht.
»Wollt ihr nicht noch bleiben?«, fragt er und raschelt mit der Streichholzschachtel.
Julia schüttelt den Kopf. Ihren letzten Joint hatte sie mit Jonas in der Badewanne geraucht. Und dann hatten sie sich abgetastet, erkundet, mit Augen, Lippen, Fingerspitzen, wie Blinde – und alles dabei gesehen.
Kolja lehnt den Joint auch ab. »Bin mit dem Auto hier«, sagt er und reicht ihn weiter.
Der Typ zündet den Joint selber an, verschwindet hinter einer dicken Wolke. Julia riecht den süßlichen Rauch, klopft sich noch Sand von der Hose, einen Moment wird ihr schwindelig, als hätte sie doch an dem Joint gezogen. Aber das kommt nur vom schnellen Aufstehen.
Sie gehen über die Rollbahn. Verrückt, hier langzugehen, wo jahrzehntelang Flugzeuge gestartet und gelandet sind, mitten in der Stadt, auch die amerikanischen Rosinenbomber, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Berliner mit Care-Paketen versorgt haben. Wenn es doch nur ein Care-Paket für sie geben würde, für ihre hungernde Seele.
Kolja legt einen Arm um ihre Schulter. Das fühlt sich gut an. »Wenn Jonas uns jetzt sehen könnte, wäre er bestimmt froh«, sagt er.
Julia bleibt stehen. »Glaubst du, dass er uns sehen kann?«
»Bestimmt. Er ist ja nicht weg. Er ist ganz nah. Es hört sich vielleicht komisch an, Julia, aber ich bin mir sicher, Jonas ist bei mir und bei dir – bei seinen liebsten Menschen. Er will uns nicht wehtun. Und seitdem ich das weiß, geht es mir besser.« Kolja schaut ihr in die Augen. »Glaub nicht, dass ich an
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