Je mehr ich dir gebe (German Edition)
der Heerstraße hält Kolja an. Sie geht ein paar Schritte. Ein Lieferwagen rauscht vorbei. Der Fahrtwind knallt ihr ins Gesicht, dann überschlägt sich ihr Herz. Sie möchte wegrennen, aber wohin? Sie hat ja nicht mal Luft zum Atmen. Vielleicht stirbt sie jetzt. Aber da pendelt sich der Herzschlag wieder ein. Julia ist schweißgebadet. Das war eine Panikattacke. Sie kommen aus heiterem Himmel, wenn es einem eng ist. Aber hier ist es nicht eng. Kein Gedränge, kein Stau. Julia atmet ruhig und langsam, muss sich überwinden, wieder ins Auto zu steigen. Das Top klebt auf der Haut. Sie fragt Kolja nach einem Schluck Wasser. Kolja hat kein Wasser dabei, er kann hier auch nicht stehen bleiben, am Straßenrand, wo die anderen Autos vorbeidonnern. Dabei fahren sie nicht mal 70. Der Wagen, der Jonas die Vorfahrt genommen hat, ist nur 50 gefahren. Und selbst das hat gereicht. Wie das wohl knallt, wenn ein Auto einen voll erwischt?
Kolja ist besorgt um sie, er beruhigt sie mit Worten, sagt, sie sollten weiterfahren. Ja, sie will hier weg, aber dafür muss sie erst mal ins Auto steigen. – Schafft sie das überhaupt?
Julia lässt das Fenster offen, friert, beißt sich auf die Lippen, damit ihre Zähne nicht klappern. Dann wird sie ganz ruhig, leicht, als wäre sie mit Helium gefüllt. Sie ist erschöpft, keine Kraft mehr in den Beinen. Kolja fragt: »Geht es wieder?«
Julia nickt.
»Was war denn los? Ist dir schlecht?«
»Nein.«
»Fahr ich zu schnell?«
»Nein. Du hast damit nichts zu tun. Ich glaube, ich hatte eine Panikattacke.« – Allein das Wort birgt Todesangst. In einem ihrer Schauspielkurse hatten sie mal über Angst geredet, und wie man Angst auf der Bühne darstellt. Helen, eine aus ihrem Kurs, hatte dann von ihren Panikattacken erzählt – ganz offen, als wäre sie gar nicht betroffen. Julia war es allein vom Zuhören ganz eng geworden, als hätte man sie in ein Korsett gezwängt. Helen hatte ganz genau beschrieben, was Julia gerade erlebt hat – wie einem das Herz zu zerspringen droht –, und gesagt: »Man muss sich nur im Klaren sein, dass einem nichts dabei passiert. Dann kann man die Attacken einfach über sich hinwegrollen lassen.«
… einfach über sich hinwegrollen lassen, wie leicht sich das sagt! – Julia fühlt sich eher überrollt, ist immer noch völlig erschöpft. Die Beine hängen an ihr, als wären sie nur angenäht. Gut dass sie sitzen kann. Hoffentlich kriegt sie so was nie wieder! Kolja legt seine Hand auf ihren Arm, fährt mit einer Hand weiter.
Er parkt auf einem Schotter-Parkplatz. Gefällte Baumstämme als Begrenzungen. Die Sonne flimmert durch die Blätter. Am nächsten Kiosk kaufen sie Mineralwasser.
Sie gehen in den Grunewald, da kann man stundenlang spazieren gehen. Mit ihren Eltern war sie früher öfter hier, dann nie wieder. Sie hätte nie gedacht, wie gut spazierengehen tut. Immer nur gehen, gehen, gehen und sich nicht umdrehen müssen. Sie suchen sich einen Rundgang aus, den, der etwa anderthalb Stunden dauert. Kolja nimmt die Wasserflasche mit. Im Wald ist es schattig, frisch, die Vögel zwitschern ein bisschen zu laut. Man hört auch noch die Autos von der Avus . Julia hätte gern einen Knopf zum Leiserdrehen. Ihre Ohren sind so empfindlich, als hätte jemand zu sehr darin herumgeputzt.
»Wovor hast du denn Angst?«, fragt Kolja.
Sie versteht seine Frage nicht gleich.
»Werden diese Attacken nicht von Angst ausgelöst?«
Es tut gut zu hören, wie normal er darüber redet. Ihr ist die Angelegenheit im Nachhinein peinlich.
»Du musst keine Angst haben«, sagt er. »Ich bin doch bei dir. Ich beschütze dich.«
Sie würde ihn gern umarmen, aber sie hat die Hände in den Hosentaschen, zu Fäusten geballt. »Erzähl mir von Jonas«, sagt sie. Kolja sagt: »Letztes Jahr waren wir in Holland, Den Helder. Wir sind nach Amsterdam mit den Motorrädern gefahren, von da aus getrampt. Dann weiter zur Küste. In Amsterdam sind die Leute locker drauf, aber ab Warmenhuizen ging gar nichts mehr. Echt.«
»Wieso?«
»Weil die Leute da total spießig sind.«
»Warmenhuizen – hört sich doch lustig an.«
»Sieht aber gar nicht so lustig aus: Die meisten kleinen Häuschen hatten Gardinen vor den Fenstern und zwei Vasen auf der Fensterbank.«
»Was ist denn spießig an zwei Vasen?«
»Oder zwei Porzellanhunde. – Von jeder Dekoration war immer alles doppelt. Steckte in der einen Vase eine Rose, war die gleiche Rose in der anderen Vase. – Aber als wir da so
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