Je mehr Löcher, desto weniger Käse
erlebt. Bekommt es Lösungstechniken eingetrichtert? Oder darf es eigene kreative Ideen entwickeln, die auch als solche erkannt werden?
Keine Angst, Sie müssen jetzt nicht an die Tafel und x 3 + 5x 2 – 4 differenzieren. Das Kapitel beginnt mit einer wirklich einfachen Frage: Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän? Was meinen Sie?
1980 haben Pädagogen des französischen Forschungsinstituts für Mathematikunterricht IREM Grundschülern in Grenoble diese Aufgabe gestellt. 76 der 97 befragten Kinder rechneten tatsächlich ein Ergebnis aus – also mehr als drei Viertel. Dreimal dürfen Sie raten, auf wie viele Jahre die Schüler gekommen sind: 36.
In der Tat ergibt die Addition von 26 und 10 die Zahl 36, addieren konnten die Schüler offensichtlich. Das Ergebnis ist freilich völliger Unsinn. Hier werden zwar nicht Äpfel mit Birnen verglichen, aber Schafe und Ziegen zu Jahren zusammengerechnet.
In der Lehrerschaft sorgte die Untersuchung für Empörung. »So darf man das doch nicht machen«, »Das ist Machtmissbrauch«, »Eine Schande, so etwas Kindern anzutun« – derartige Kommentare musste sich die französische Mathe-Didaktikerin Stella Baruk anhören, als sie die Studie Lehrern vorstellte.
M athematik handelt nicht von Zahlen, sondern vom Leben.
Keith Devlin (geb. 1947), britischer Mathematiker und Autor
Wie aber kommen Schüler darauf, Schafe und Ziegen zuJahren zu addieren? Wissenschaftler haben das Phänomen der sogenannten Kapitänsaufgaben in den letzten 30 Jahren unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht – bis heute machen viele Schüler dieselben Fehler. Immerhin haben die Studien aber gezeigt, dass Unsinnsaufgabe nicht gleich Unsinnsaufgabe ist. Ein Teil der Kinder trifft beim Lösen interessante Unterscheidungen.
Die Drittklässler aus Grenoble bekamen folgende zwei Aufgaben nacheinander gestellt und wurden auch gebeten aufzuschreiben, was sie von den Aufgaben halten.
Auf einem Schiff sind 36 Schafe. Davon fallen 10 ins Wasser. Wie alt ist der Kapitän?
Es gibt 7 Reihen mit je 4 Tischen im Klassenzimmer. Wie alt ist die Lehrerin?
Der Großteil der Kinder »rechnete« auch hier bei beiden Fragen das Alter aus. Die Ergebnisse lauteten dann meist 26 beziehungsweise 28 Jahre. Interessanterweise zeigte ein Drittel der Schüler aber ein auf den ersten Blick widersprüchliches Verhalten. Die Kinder erklärten, dass man die erste Frage nicht beantworten könne oder dass sie jedenfalls nicht wüssten, wie man sie beantworten solle. Bei der zweiten Frage hingegen gaben sie eine Antwort, obwohl sie genau wie die erste Frage nicht lösbar ist. Hier einige ausgewählte Kommentare der Kinder:
Die Forscherin Stella Baruk hält das Verhalten der Kinder für keineswegs widersprüchlich. Die Klasse, die Tische und die Lehrerin stammten aus derselben Erlebniswelt und gehörten für die Schüler deshalb zusammen, erklärt sie. Deshalb würden die Kinder auch ohne zu zögern mit den Zahlen rechnen. Im Falle des Kapitäns und der Schafe bestehe zumindest für einen Teil der Kinder ein solcher inhaltlicher Zusammenhang nicht, deshalb würden sie auch keine Lösung ausrechnen.
Ich rechne einfach mal los
Und es wird noch kurioser: Bei Tests mit deutschen Schülern Mitte der Neunzigerjahre haben Wissenschaftler von der TU Dortmund beobachtet, dass diese sogar dann anfangen zu rechnen, wenn sie es eigentlich gar nicht müssten:
Ein 27 Jahre alter Hirte hat 25 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Hirte?
Obwohl die Lösung 27 Jahre klar im Text steht, rechneten die Kinder munter drauflos. 27 + 25 + 10, 27 + 25 – 10 – bei den Rechenwegen zeigten sich die Grundschüler erfinderisch. Im Anschluss baten die Forscher die Kinder, ihre Lösungen noch einmal zu erklären. Viele waren überzeugt, alles richtig gemacht zu haben, wie das folgende Gesprächsprotokoll zeigt:
Sebastian: Ich weiß es. Ein 27 Jahre alter Hirte, da muss man die 25 noch dazuzählen. Und die 10 Ziegen, die laufen ja nicht weg!
Frage: Die laufen nicht weg?
Sebastian: Ne, hab ich nicht geschrieben!
Frage: Und was musst du da rechnen?
Sebastian: 27 plus 25 plus die 10.
Frage: Weil die Ziegen nicht weglaufen?
Sebastian: Ja.
Frage an Dennis: Und was meinst du?
Dennis: Die laufen weg! Der passt da nicht drauf auf!
(aus Spiegel/Selter: »Kinder und Mathematik«)
Die fantasievollen Erklärungen der beiden Jungen wirken rührend, sie sind aber vor allem eins:
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