Je mehr Löcher, desto weniger Käse
erschreckend. Ziegen und Schafe zum Alter des Hirten zusammenzählen – lernen die Kinder das so im Mathematikunterricht?
Die traurige Antwort darauf lautet: offensichtlich ja. Dies hat Hendrik Radatz bei einer Untersuchung mit deutschen Schülern und Kindergartenkindern herausgefunden. Er stellte mehr als 300 Kinder die unsinnigen Kapitänsaufgaben. Und dabei kam heraus, dass die Kinder umso häufiger eine »Lösung« ausrechneten, je älter sie waren. Die Kita-Kinder kamen auf eine Berechnungs-Quote von nur etwa 10 Prozent, die Zweitklässler auf 30 Prozent, die Dritt- und Viertklässler hingegen auf 54 beziehungsweise sogar 71 Prozent! Je mehr Mathematikunterricht die Schüler erlebt haben, umso schneller rechnen sie ohne nachzudenken einfach blind drauflos.
Warum das so ist, wissen Pädagogen mittlerweile. Im Unterricht werden Textaufgaben intensiv geübt. Die Texte selbst sind meist belanglos und haben mit dem tatsächlichen Leben der Kinder wenig zu tun. Wozu sollen sie die Aufgabe dann genau lesen, wenn sie ja immer wieder nur Zahlen in eine Gleichung einsetzen? In der Regel ist bei den Textaufgaben zudem jene Rechenoperation gefragt, die gerade im Unterricht besprochen wurde. Und in den Aufgaben wird nicht nach dem Sinn gefragt, sondern nach einer Zahl. Das haben die Schüler im Unterricht schnell verinnerlicht.
Die Kinder verhalten sich so, wie es von ihnen erwartet wird. Wenn sie merken, dass bei der Aufgabe etwas nicht stimmen kann, rechnen sie trotzdem weiter und geben die Schuld dann dem Aufgabensteller, wie Christoph Selter und seine Dortmunder Kollegen beobachtet haben. Exemplarisch dafür steht der folgende Dialog eines Lehrers mit einer Schülerin:
Lehrer: Du hast 10 Bleistifte und 20 Buntstifte. Wie alt bist du?
Julia: 30 Jahre alt!
Lehrer: Aber du weißt doch genau, dass du nicht 30 Jahre alt bist!
Julia: Ja, klar. Aber das ist nicht meine Schuld. Du hast mir die falschen Zahlen gegeben.
(aus Spiegel/Selter: »Kinder und Mathematik«)
Das Kapitänsaufgaben-Phänomen zeigt eindrucksvoll, dass im Mathematikunterricht einiges schiefläuft. Das Denken kommt zu kurz, und das hat viel damit zu tun, dass Lehrer dieses Fach selbst nicht anders kennengelernt haben. Wer verhindern will, dass viele Menschen mathegeschädigt die Schule verlassen, muss die Lehrerausbildung verbessern. Doch das ist einfacher gesagt als getan, wie wir am Ende des Kapitels noch sehen werden.
Wenn Kinder in die erste Klasse kommen, haben sie normalerweise noch ein gutes Verhältnis zu Zahlen, Dreiecken und Logik. Wir haben im ersten Kapitel gesehen, dass bereits Babys über elementare Rechenkünste verfügen. Und ihre Vorliebe für messerscharfe Logik demonstrieren Kita-Kinder immer wieder, wenn sie zur 10 beispielsweise einszig sagen, zur 12 zweizehn und zur 110 elfzig.
Logisch und trotzdem falsch
Sie leiten diese Zahlwörter, so gut sie können, logisch von den Zahlwörtern ab, die sie kennen. Eigentlich müssten sie dafür gelobt werden. Sie haben eigenständig gedacht, Muster erkannt und diese in einer neuen Situation richtig angewandt. Leider ist das Ergebnis trotzdem falsch.
Spaß mit Geometrie: Im Mathematikum Gießen erleben Schüler das Fach spielerisch
© Mathematikum
Falsche Zahlwörter lösen sicher noch keine Mathephobie aus, aber wenn Kindern systematisch das eigene Denken und Entdecken ausgetrieben wird, dann verlieren sie schnell die Lust am Lernen. Das gilt selbstverständlich nicht nur für die Mathematik.
Inge Schwank, Professorin für Mathematikdidaktik an der Universität Osnabrück, berichtet von einem typischen Fall aus der 3. Klasse. Die Schüler lernen schriftliches Rechnen, und ein Kind schreibt auf: 888 + 222 = 101010.
»Das ist natürlich dramatisch verkehrt«, sagt Schwank. Aber dahinter stecke durchaus richtige Mathematik. Der Schüler habe einfach die Einer, Zehner und Hunderter addiert und die einzelnen Ergebnisse hintereinandergeschrieben. »Man muss sich aber die Mühe machen, das zu erkennen.«
Ein anderes Beispiel schildern Hartmut Spiegel und Christoph Selter. In einer Klassenarbeit müssen Schüler der 4. Klasse folgende Aufgabe lösen.
Der Apotheker füllt 1,750 Kilogramm Salmiakpastillen in Tüten zu je 50 Gramm. Wie viele Tüten erhält er?
Annika hat folgende Lösung abgegeben:
Antwort: Der Apotheker erhält 35 Tüten.
Das Ergebnis stimmte, doch die Lehrerin stutzte über Annikas Lösungsweg. Was hatte das Kind da bloß gerechnet? Weil es nicht
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