Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)
Irish-Moss-Liebesbrief als vermeintlichen terroristischen Bio-Anschlag aus dem Verkehr gezogen!«
Wie gesagt: Dies alles ist schwieriger geworden in Zeiten der modernen, unmittelbaren Kommunikation. Kaum hast du die SMS oder E-Mail auf den Flügeln eines Kusses durch die Luft abgeschickt, ist sie auch schon angekommen. Kaum willst du dich dem Genuss der Hoffnung hingeben, dieser schönen Zeit des Wartens, in der du deine Phantasie vom Leben zu zweit auf Reisen schickst und bereits gemeinsame Pläne für euch ausmalst, piept auch schon dein Handy mit der kalten »KBVP«-Abfuhr. »Kein Bock! Verpiss Dich!«
Ruckzuck geht das heutzutage.
Es gibt allerdings auch Beispiele mit positivem Ende: Mein Sohn Jeremy, damals vierzehn Jahre alt, verliebte sich Hals über Kopf unsterblich in Jessica, eine Klassenkameradin. Jessica hatte im Sportunterricht einen Kopfstand gemacht und vergessen, vorher ihr T-Shirt in die Hose zu stecken. Da war es um Jeremy geschehen. Was machte er also? Er drückte seine Gefühle dort aus, wo Literaturhistorikern zufolge bereits Goethe und Heine ihre frühe Poesie verewigt haben: auf der Rückseite vom Vordersitz im Bus. Zwar hatten sich dort bereits andere vor ihm ausgetobt, aber zwischen »Kevin war da« und »Chantal ist die Matratze der 11a« war noch ein wenig Platz. Jeremy zückte seinen Edding und schrieb hingebungsvoll den romantischsten Satz, den ein Vierzehnjähriger sich vorstellen kann: Jessica, ich find dich voll geil!
Da die überkochenden Hormone das Rechtschreibzentrum im Kopf meines Sohnes weitgehend lahmlegten, habe ich die Fehler (zwei allein in »Jessica«) zum Verständnis korrigiert. War ja auch egal – Jessica würde es verstehen, und allein das zählte. Dazu musste sie Jeremys Liebebrief aber natürlich erst mal lesen.
Um 13:40 Uhr war Jeremy zu Hause, setzte sich an den Computer und schrieb seiner Kopfstandgöttin eine Mail:
Jessica,
Buslinie 636, 14:35 Uhr Richtung Hauptbahnhof, drittletzte Reihe rechts, unbedingt lesen!
Kaum hatte Jeremy auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn Panik: Was, wenn Jessica gerade nicht online war? Jeremy griff sich ein Blatt Papier, kritzelt hastig:
Schau in deine Mails!
Er rannte zum Fax – weg damit. Doch kaum hatte Jeremy erneut auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn schon wieder Panik: Was, wenn sie das Fax nicht findet? Jeremy stolperte über seine eigenen Füße, als er zum Handy hechtete und mit seinem Lichtgeschwindigkeitsdaumen tippte:
Guck aufs Fax!
Doch kaum hatte Jeremy ein drittes Mal auf »Senden« gedrückt, erfüllte ihn ein drittes Mal Panik: Was, wenn sie das Handy aus hat? Jeremy rannte mich, seinen eigenen Vater, fast über den Haufen, als er zum Telefon raste, um die Festnetznummer von Jessicas Eltern zu wählen. Jessica ging direkt ran, und Jeremy keuchte mit letzter Kraft ins Telefon: »Jessica, guck auf dein Handy!« – und legte wieder auf.
Jessica machte daraufhin ihr Handy an, las die SMS, lief zum Faxgerät, überflog das Papier, rannte zum PC, fuhr ihn hoch, rief ihre Mails ab, spurtete zur Bushaltestelle und suchte im 636er die Liebeserklärung von Jeremy. »›Chantal ist die Matratze der 11a‹?«, wunderte sich Jessica. »Das weiß doch jeder. Warum schickt mich Jeremy dafür extra hierher?«
Dann jedoch entdeckte Jessica sie endlich – die Worte aus den tiefsten Herzen meines Sohnes:
Jessica, ich find dich voll geil!
»Wie süüüüüß!«, dachte Jessica verzückt. Sie war hin und weg. »Ein ganzer Satz! Er ist ein Romantiker!«
Die Beziehung von Jeremy und Jessica hielt knapp sechs Wochen, bevor der noch süßeren Steffi im Sportunterricht versehentlich die Hose runterrutschte. Aber immerhin: Sechs Wochen länger als meine Beziehung damals mit Susan. Acht Tage nachdem ich ihr meinen Liebesbrief geschickt hatte, erhielt ich ihre Antwort. Acht Tage, in denen ich unser gemeinsames Leben vom ersten Kuss bis zur Goldenen Hochzeit bereits minutiös durchgeplant hatte. Und Susans Brief versprach bereits äußerlich, dieses Versprechen einzulösen: rosa Umschlag, mein Name und meine Adresse in ihrer süßesten Mädchenhandschrift drauf. Und: Er roch nach Tosca!
Voller Erwartung rannte ich in mein Zimmer, riss den Umschlag auf, um die heiß ersehnten Zeilen zu verschlingen. Ich hörte ihr niedliches Pieps-Lispeln beim Lesen förmlich vor meinem geistigen Ohr:
»Lieber Bill«! Sie hatte »Lieber« zu mir gesagt!!! Mein Herz führte vor Freude einen Tanz auf, bei dem mein heutiger Kardiologe
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