Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)
richteten sich mit aufgerissenen Augen auf den Sarg. Der Deckel wurde nach der kurzen Schockstarre aller Anwesenden sofort geöffnet – Leute: Er hat gelebt! Der Mann hat noch gelebt! Die Geschichte war bei uns in allen Zeitungen, noch viel größer als die Todesanzeige vom Hans. Der Tote wider Willen hat danach noch zehn Jahre gelebt. Und mit »leben« meine ich »leben«! Jedes Jahr Karneval, zu dem er seine Witwe a.D. – ursprünglich aus Wiesmoor, Ostfriesland – bereits zu normalen Lebzeiten immer mitgeschleppt hat, viermal die Woche gemeinsames Nordic-Power-Walking für die Gesundheit (das mit dem versehentlich Sterben sollte ihm nicht noch einmal passieren), weite Reisen mit seiner Frau ins ewige Eis der Arktis, das er vor seinem echten Tod unbedingt noch mal sehen wollte etc. etc. pp. Kurz: richtig Halli-Galli, rund um die Uhr. Gut, bis zum letzten Frühjahr. Da ist der Mann dann gestorben. Also: wirklich gestorben. Er kam in dieselbe Eichenholzkiste, die unser Bestatter Sannemann für ihn extra zehn Jahre aufbewahrt und jetzt noch mal mit »Sarg-Poliboy« schön aufpoliert hatte. Wie damals spielte ein Musikerfreund dasselbe Lied (allerdings nicht derselbe Musikerfreund, der erste war inzwischen nämlich verstorben), wie damals wurde eine sehr persönliche Messe gelesen, die einfach um die zusätzlichen zehn Jahre hinten dran ergänzt wurde. Als die Sargträger den Sarg anhoben und ihn durchs Hauptportal der kleinen Kapelle trugen, hatte die doppelte Witwe hinter dem schwarzen Schleier ihres Huts nur noch einen einzigen Wunsch: »Jungs, passt bitte auf den Pfeiler auf!«
Übrigens habe auch ich vor ein paar Jahren mal in Sannemanns Bestattungsinstitut vorbeigeschaut. Zum Glück noch nicht in der Horizontalen, sondern lebend auf meinen eigenen Füßen. Ich hab mir irgendwann einfach gedacht: Man muss sich doch mal informieren, was da alles so abläuft. Also bin ich in Sannemanns dunkles Geschäft rein, hab erst mal niemanden entdeckt, worauf ich mich misstrauisch nach allen Seiten umgedreht habe – nicht, dass Bestatter Sannemann mir von hinten eins mit dem Knüppel überzieht und mich direkt dortbehält. Dem traue ich alles zu für einen guten Auftrag. Er kam dann aber doch ganz offen von vorne aus seinem Büro, streckte seine knochige Hand aus.
»Herr Mockridge, Herr Mockridge, ich grüße Sie! Ich wusste doch, dass wir uns bald wiedersehen! Ein weiser Entschluss, dass Sie planen zu sterben – das werden Sie nicht bereuen!«
»Ja … nee, Herr Sannemann. Ganz so akut ist es noch nicht.«
»Ja ja, das glauben sie alle.«
»Nein, wirklich: Ich möchte einfach nur mal unverbindlich ein paar Särge gezeigt bekommen, wenn das geht.«
»Aber natürlich, natürlich! Kommen Sie!«
Bestatter Sannemann präsentierte mir daraufhin all seine Modelle für die letzte Ruhe, von der Basisausführung »Spanholz« bis hin zum funkelnd verzierten Edelsarg »Swarovski«. Schnell wurde mir klar: So ein bisschen Holz kostet richtig viel Holz. Ich zeigte schluckend auf eine der Preistafeln.
»Meinen Sie das ernst?«
»Todernst!«, bekräftigte Sannemann voller Inbrunst.
»Sie wissen aber schon, dass Ihre Särge deutlich teurer sind als bei der Konkurrenz um die Ecke?«
»Herr Mockridge, selbstverständlich weiß ich das – aber versuchen Sie bei denen mal, die Beine auszustrecken! Bei mir kriegen Sie noch Qualität, da wird nicht am falschen Ende gespart! Vor allem eben nicht an dem, wo die Füße hingehören. Kommen Sie, kommen Sie, liegen Sie ruhig mal Probe!«
»Ach, lassen Sie mal.«
»Nein, ehrlich, probieren Sie es aus! In meinen Särgen bettet man sich wie im Himmelbett! Wer sich einmal da reinlegt, der steht nie wieder auf. Außer natürlich wie Herr Grün, mit dem sie damals auf der Beerdigung gegen den Pfeiler gelaufen sind und der wieder aufgewacht ist. Der arme Kerl. Haben Sie diese Geschichte gehört?«
»Ja ja, hab ich … Herr Sannemann, ich glaub, ich muss jetzt gehen.«
Noch bevor Sannemann seine Pläne zu Ende ausführen konnte, mir einen persönlichen Sarg mit »Lindenstraßen«-Logo zu zimmern, verschwand ich schnell aus seiner Gruft.
Es gibt ja viele Schauspieler, die wollen irgendwann einmal auf der Bühne abtreten. Das will ich nicht. Die Vorstellung, dass tausend unbekannte Zuschauer mir im besten Fall beim Sterben zusehen, im schlechtesten sogar noch applaudieren, fixt mich nicht an. Was ich allerdings will, und da kommt dann doch der Theatraliker in mir durch: einen guten
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