Je sueßer das Leben
Gefrierschrank, um die restlichen Teigbeutel aus ihrem Eisgefängnis zu retten.
Kapitel 20
Auf der Karte kann man gut erkennen, dass sich mitten durch Avalon der Leaf River schlängelt, ein Nebenfluss des Rock River, der wiederum zum Stromgebiet des Mississippi gehört. Springfluten und schwere Regenfälle sind im nördlichen Illinois nichts Ungewöhnliches, und so hat Avalon schon das eine oder andere Hochwasser erlebt. Viele der Einwohner erinnern sich noch an die Flut von 1996, als der Fluss drei Meter anstieg und ganze Straßenzüge unter Wasser setzte. Der Gouverneur hatte das County zum Katastrophengebiet erklärt, und die Kinder bekamen zwei Wochen schulfrei.
Wieder einmal ist es so weit, dass der Flusspegel bedrohlich steigt. Die benachbarten Countys stehen nach schweren Regenfällen bereits unter Wasser, und wegen der von den Stürmen entwurzelten Bäume und abgerissenen Äste sind viele Häuser von der Stromversorgung abgeschnitten.
Mark sieht aus dem Wohnzimmerfenster. Der Regen strömt wie ein Wasserfall die Scheibe herunter und lässt Garten und Straße verschwinden. »Na, prima.« Für heute ist ein weiteres Treffen mit Bruno Lemelin angesetzt.
Er sieht, wie Julia mit ein paar Plastikschüsseln ins Badezimmer im ersten Stock läuft, wo es hereinregnet. Gracie haben sie in ihrem Schlafsack vor den Fernseher gesetzt. Für den Notfall hat Julia schon mal die Campingsachen hervorgeholt.
Sein Handy klingelt. Es ist Vivian.
»Wo sind denn alle?«, fragt sie. »Es ist keine Menschenseele im Büro.«
»Wir haben heute früh herumgerufen und allen gesagt, dass sie zu Hause bleiben sollen.« Victor und er hatten das bei Tagesanbruch beschlossen, als klar war, dass die Straßen bald überschwemmt sein würden. »Hat dir Dorothy denn nicht Bescheid gegeben?«
»Doch, aber ich dachte, es wäre jedem freigestellt.«
»Du solltest sofort nach Hause fahren und dort bleiben«, erklärt er ihr. »Ich wollte gerade Lemelin anrufen und das Treffen absagen.«
»Das Treffen absagen? Mark, ich habe mich die letzten drei Wochen halb zu Tode geschuftet – wir können jetzt nicht einfach aufgeben! Du weißt genau, dass er bereits Kontakt mit anderen Architekten aufgenommen hat.«
Mark ist sich dessen sehr wohl bewusst – Vivian ist nämlich nicht die Einzige, die rund um die Uhr gearbeitet hat. »Ich weiß, Vivian. Aber bei diesem Wetter sollte niemand auf der Straße sein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Lemelin den Termin einhalten wird.«
»Wetten?« Mark hört einen spöttischen Unterton in ihrer Stimme. »Solche Typen lassen sich doch von ein paar Regenspritzern nicht abhalten. Und das erwarten sie auch von allen anderen.« Was Vivian damit sagen will, ist klar: Wenn Mark auch nur ein bisschen Mumm hat, setzt er sich in sein Auto und macht sich auf den Weg nach Chicago, egal wie das Wetter ist.
Mark sieht noch einmal hinaus. Der Himmel ist schwarz. Bedrohlich schwarz.
»Ich rufe Lemelin an«, sagt er. »Und du machst dich sofort auf den Heimweg.« Vivian will protestieren, Mark hat sich jedoch schon verabschiedet und aufgelegt.
Er wählt Lemelins Nummer und landet auf seiner Voicemail. Eben. Bei einem solchen Wetter würde nur ein Verrückter seinen Kopf zur Tür hinausstrecken. Er hinterlässt eine Nachricht und bittet Lemelin um Rückruf.
Ein Blitz bringt die Lichter im Haus zum Flackern, und gleich darauf hört er Gracie laut kreischen. Julia läuft zu ihr und nimmt sie in den Arm, aber offenbar findet diese die ganze Angelegenheit eher spannend als beängstigend.
»Ich hätte gestern einkaufen gehen sollen«, sagt Julia über Gracies Kopf hinweg. »Ich hatte es vor, aber dann habe ich es bleiben lassen. Viel zu essen haben wir jedenfalls nicht im Haus.«
»Es reicht bestimmt«, versichert ihr Mark. »Komm, Fünkchen, wir schauen mal nach.« Er nimmt Gracie auf den Arm.
Sie begeben sich in die Küche, und Mark setzt sie auf die Arbeitsfläche. Er geht die Vorräte durch. Julia hat recht: Viel ist nicht da. Wenn das Wetter so bleibt, könnte es knapp werden.
Als Mark die letzte Schranktür öffnet, kommt ihm eine Lawine Gefrierbeutel mit Teig entgegen. Ein paar davon erwischt er, der Rest fällt auf den Boden. Auf jedem steht mit wasserfestem Stift ein anderes Datum. Es müssen an die zwanzig Stück sein.
»Zumindest haben wir keinen Mangel an Freundschaftsbrotteig«, witzelt er und fängt an, sie wieder einzuräumen. Das Beängstigende ist, dass alle diese Beutel von Julia stammen.
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