Je sueßer das Leben
groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Eltern noch einmal mit ihnen nach Pennsylvania fahren würden? Ungefähr null Komma null.
Die Autofahrt war schrecklich – sie wurde reisekrank und musste sich zweimal übergeben. An der Staatsgrenze zu Pennsylvania entdeckte Livvy eine Werbetafel von Dutch Wonderland, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie kniff die Augen zusammen. Dennoch stahl sich eine Träne über ihre Wange, und sie wischte sie schnell mit dem Handrücken weg. Nicht weinen , schalt sie sich. Und das tat sie auch nicht.
An diesem Abend erklärte Julia in der EconoLodge plötzlich: »Wisst ihr, ich würde doch lieber ins Dutch Wonderland fahren, wenn das noch geht.« Livvy hielt die Luft an, als ihr Vater grunzte, aber schließlich nachgab. Julia warf Livvy einen warnenden Blick zu und flüsterte ihr ins Ohr: »Das tu ich nicht deinetwegen. Das tu ich nur meinetwegen.« Sie hatte ihre Schwester todernst angesehen, und Livvy hatte genickt und gehorsam den Mund gehalten, auch wenn sie es besser wusste.
Denn wenn Julia etwas für einen anderen, insbesondere für Livvy tut, dann tut sie es für sich. Trotz all ihrer Kämpfe, Streitereien und Meinungsverschiedenheiten, Livvy kann immer auf Julia zählen. Oder konnte es zumindest. Alle Kindheitserinnerungen sind mit Julia verbunden, was auch logisch ist, weil Julia ja vom ersten Tag an dabei war – Livvys erstem Tag. Sie kann sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne Julia ausgesehen hätte. Julia war diejenige, die sich um sie kümmerte, an sie dachte, sie überallhin mitnahm. Es war Julia, die Livvys Hochzeit rettete, als der Fotograf nicht auftauchte, ihr Schleier riss und die Blumenmädchen sich weigerten, vor ihnen zum Altar zu gehen. Julia konnte jedes Problem lösen und bewog selbst Wildfremde dazu, mit anzupacken. Livvy betrachtet traurig das Foto und hat plötzlich das Gefühl, ihr Herz würde entzweibrechen.
Alles , denkt sie verzweifelt, als sie ihre Gesichter auf dem Foto berührt. Ich tue alles für dich, Julia. Du musst mich nur fragen.
An diesem strahlenden Tag im Dutch Wonderland sehen die Mädchen glücklich in die Kamera, ohne zu ahnen, dass ein Tag kommen wird, an dem alles endet, an dem zwei Schwestern aufhören, miteinander zu sprechen, nicht mehr bereit sind, sich zu treffen, nicht mehr in der Lage, sich gegenseitig zu helfen.
Die Avalon Gazette kommt dienstags und freitags heraus. Sie ist ein kleines Blatt mit einer Auflage von 2500 Stück, was auch heißt, dass die Bezahlung lausig ist, aber Edie arbeitet ja auch nicht wegen des Geldes. Patrick, ihr Chef, hat ihr angeboten, sie als festes Redaktionsmitglied einzustellen, aber Edie wollte lieber frei für ihn arbeiten. Sie ist zuständig für die Lokalnachrichten und springt auch sonst ein, wenn Not am Mann ist, was ihr noch genug Zeit lässt, um ihre eigenen Projekte zu verfolgen.
Edie hofft darauf, einmal einen Beitrag bei einer der größeren Chicagoer Zeitungen wie der Tribune oder der Sunday Times unterzubringen, ein Feature von der Kleinstadtfront. Sie ist für dieses Käseblatt eindeutig überqualifiziert, aber unter den gegebenen Umständen hat sie kaum eine andere Wahl. Richard meinte auch einmal, dass sich Patrick vielleicht in absehbarer Zeit als Chefredakteur zurückzieht und Edie seinen Posten übernehmen könnte.
Aber Edie hat mittlerweile festgestellt, dass Patrick zu den Leuten gehört, die gerne überall mitmischen – und dass Avalon zu den Städten gehört, wo das möglich ist. Er wird seinen Posten nicht so bald räumen, aber das stört Edie auch nicht. Einer der Gründe, warum sie Journalistin werden wollte, war, dass sie gerne schreibt und gerne mit Leuten redet, sich von ihrem Alltag erzählen lässt, vom Auf und Ab des Lebens. Sie will nicht ständig Honneurs machen wie Patrick, der sich anders als Edie auf Diplomatie versteht. Sie hält sich lieber im Hintergrund, erledigt ihre Arbeit und überlässt den Rest den anderen. Mit dem Vorstand der Avaloner Handelskammer oder dem örtlichen Rotarier Club Kaffee zu trinken und Kuchen zu essen ist nicht ihre Sache.
Als sich für Richard die Gelegenheit ergab, die hiesige Allgemeinarztpraxis zu übernehmen, war sie gleich einverstanden. Edie war in Springfield aufgewachsen, hatte in Chicago studiert und war dann in der ganzen Welt herumgereist, so dass sie neugierig darauf war, das Leben in einer Kleinstadt kennenzulernen. Sie und Richard waren nach dem Ausscheiden aus dem Friedenskorps durch Afrika und
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