Je sueßer das Leben
Windelallergie oder das hundertste Stofftier?«
Livvy war zusammengezuckt – bislang hatte sie den werdenden Müttern zur Babyparty immer ein Stofftier geschenkt und das auch dieses Mal vorgehabt. »Die sind doch teilweise ganz niedlich«, wagte sie einzuwenden.
Carol schnaubte. »Die meisten kann man nicht einmal waschen, so dass sie irgendwann völlig versifft sind. Kein Wunder, dass Ruben Asthma hat.« Ruben ist Carols Jüngster, ein übergewichtiger Sechsjähriger, der stets eine fettfreie Lakritzpeitsche in der Hand hat. »Schau doch bitte, ob du irgendwelche Bilder von dem Cheerleader-Training im ersten Collegejahr hast. Soweit ich mich erinnere, hast du damals ein paar hübsche Fotos geknipst.« Das heißt Fotos, auf denen sie hübsch aussieht.
Livvy schiebt die Suche bereits ein paar Wochen vor sich her, und jetzt drängen Carol und Jo Kay und hinterlassen Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter und schreiben E-Mails, die an Schikane grenzen. Livvy sagt sich, dass das hormonell bedingt ist, sie erinnert sich, dass Julia ihr einmal erklärt hat, schwangere Frauen seien unberechenbar. Das ist lange her, Julia war damals im vierten Monat mit Josh schwanger. Sie waren bei der Pediküre, Julias Geschenk zu Livvys einundzwanzigstem Geburtstag. Julia hatte für Geschenke immer ein Händchen gehabt, und das gehört zu den Dingen, die Livvy schrecklich vermisst.
Heute sind ihre Geburtstage nicht mehr dasselbe, und Livvy würde sie am liebsten gar nicht feiern, weil Julias Abwesenheit dann immer besonders spürbar ist. Tom hat nichts für Sentimentalitäten übrig – meistens denkt er nicht mal rechtzeitig an ihren Geburtstag oder ihren Hochzeitstag. Livvy macht ihm daraus keinen Vorwurf, es ist einfach nicht seine Art. Er gehört zu dem Typ Mann, der auf dem Heimweg eine Karte im Supermarkt mitnimmt oder sich von einer Verkäuferin beraten lässt, was er seiner Frau schenken könnte, selbst wenn die Verkäuferin Livvy überhaupt nicht kennt.
Aber Livvy vermisst ihre Schwester nicht nur zu solchen Anlässen – sie tut es eigentlich ständig. Früher wäre kein Tag ohne Julia denkbar gewesen, sie besuchten sich gegenseitig und gingen gemeinsam einkaufen, und gelegentlich erhielt sie auch in letzter Minute einen Anruf mit der Bitte, auf den kleinen Josh aufzupassen. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sie zwei, drei oder sogar vier Mal an einem Nachmittag miteinander telefonierten. Es war Julia, die daran dachte, am Muttertag Blumen für ihre Mutter mitzunehmen und Livvys Namen auf die Karte zu setzen, die für Livvy mitkochte, damit sie sich nicht überlegen musste, was sie am Abend auf den Tisch bringen wollte. So war es immer gewesen, und es fehlte Livvy.
Livvy kramt weiter in der Schachtel, wühlt sich durch Schlüsselanhänger, Streichholzschachteln, Quetschmünzen, alte Schulzeugnisse. Keine Negative. Im Schrank befinden sich noch weitere Schachteln, nicht zu vergessen die in den anderen Zimmern und auf dem Dachboden. Das wird eine Ewigkeit dauern.
Unter einem roten Taschentuch lugt etwas hervor, das sie sofort wiedererkennt. Sie zieht einen Bilderrahmen hervor, dreht ihn um und wischt mit dem Ärmel darüber.
Das verblasste Foto zeigt sie und Julia mit acht beziehungsweise dreizehn Jahren, wie sie nebeneinander in einem Autoscooter sitzen. Grinsend umklammern sie das Lenkrad. Das war 1979, das Jahr, in dem Julia entscheiden durfte, wo die Familie die Ferien verbringt. Sie hatte sich dieses Privileg verdient, weil sie das Schuljahr mit lauter Einsen im Zeugnis abgeschlossen hatte.
Livvy erinnert sich noch genau an den stolzen Blick, den ihre Eltern wechselten, wenn sie über Julia sprachen, und auch daran, dass sie immer die Augen verdrehten, sobald es um sie selbst ging. Julia war ihr ganzer Stolz, während Livvy das »Sorgenkind« war. Sie denkt an den Tag, als Julia in der Küche ihre Entscheidung verkündete und ihr plötzlich klar wurde, dass sie nie so klug sein würde wie ihre Schwester. Die Familie würde nie eine Woche nach ihren, Livvys, Wünschen verbringen.
Julia entschied sich für den Hershey Park in Pennsylvania. Ihr Vater stöhnte wegen der langen Strecke, erklärte sich aber schließlich damit einverstanden. Als Livvy begriff, was das bedeutete, wurde sie fürchterlich traurig – sie träumte nämlich davon, Dutch Wonderland zu besuchen, das nicht einmal eine Stunde vom Hershey Park entfernt lag und von dem ihre Klassenkameraden gesagt hatten, es wäre tausendmal lustiger. Aber wie
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