Jede Sekunde zählt (German Edition)
Tour 1999 einmal versuchte, mit mir in Kontakt zu treten, aber das wollte ich nicht. Ich stellte fest, dass ich weder das geringste Interesse daran hatte, ihn kennen zu lernen, noch daran, mich mit ihm zu beschäftigen. Dieser Preis war schon bezahlt. Er war der Bewahrer des Geheimnisses, der Mann mit der Antwort auf die Frage, die sich nicht beantworten lässt. Ich für mich habe beschlossen, durch meine eigenen Kinder – indem ich nach vorne blicke, nicht zurück – zu erfahren, was es heißt, eine Familie zu haben.
Manchmal kann einem ein einziger Mensch alles geben, was man braucht, und das war bei meiner Mutter und mir der Fall. Auch wenn es nicht leicht war, sie war mir Vater und Mutter und darüber hinaus noch mein bester Freund, und das alles konzentriert auf 1,62 Meter Körpergröße. »Du warst schon ein Überlebender, bevor du Krebs hattest«, sagt sie. Wenn das stimmt, dann nur wegen ihr; sie hat uns mit dem Gehalt einer Sekretärin durchgebracht, und sie hat immer nach Mitteln und Wegen gesucht, uns ein besseres Leben zu bieten. »Wenn es etwas zu tun gibt, dann musst du es auch tun«, sagte sie immer. Plano war eine wohlhabende Vorstadt, und im Vergleich zu uns waren die anderen Familien viel besser gestellt. Was immer wir haben wollten, wirmussten es uns zuerst verdienen. Ich hatte immer wenig – aber dank meiner Mutter hatte ich immer genug.
Nun, da ich Vater bin, verstehe ich, wie sehr sie sich gewünscht haben muss, mir alles geben zu können. Und ich verstehe jetzt auch die zahllosen kleinen Ängste und Sorgen, die ich ihr bereitet haben muss – immerzu gab es eine kleine Wunde oder Verletzung, die behandelt werden musste, Folge meiner zahlreichen Stürze oder Kunststückchen mit dem Fahrrad. Sie lacht, wenn sie sieht, wie ich meine eigenen Kinder verwöhne und mich um sie sorge. »Ich sehe eine Seite an meinem Sohn, die ich zuvor nie gesehen habe«, sagt sie. Und sie fragt sich, ob ich nun, da ich Vater bin, eher bereit bin, mich mit meiner Vergangenheit auseinander zu setzen, eine Frage, die ich mir selbst stelle.
Ich habe es noch nie gemocht, über die Schulter nach hinten zu blicken. Hin und wieder fragen mich Freunde, warum ich mich nie wirklich für meine Vergangenheit interessiert habe. »Ich gehe nicht gerne rückwärts«, antworte ich dann immer. »Das bereitet mir nur Kopfschmerzen.« Zurückzuschauen ging gegen meine Natur; ich betrieb die Suche nach mir selbst auf dem Fahrrad, in voller Fahrt und den Blick nach vorne gerichtet. Mich vorwärts bewegen, das konnte ich am besten.
In meiner Jugend fuhr ich Rad, um jemand zu sein. Dann fuhr ich Rad, um zu beweisen, dass ich überleben konnte – und um es allen Skeptikern zu zeigen, die mich als tot abgeschrieben hatten. Aber womit sollte ich mich jetzt motivieren? Was sollte mich jetzt noch nach fünf oder sechs Stunden im Sattel halten, wenn der Schnee vor meinen Augen schwarz wurde? Das war die Frage, die ich mir vor der Tour de France 2000 beantworten musste. Ich war fest entschlossen, meinen Sieg vom Vorjahr zu wiederholen. Nicht im Traum dachte ich jemals daran, mich mit einem einzigen Sieg zufrieden zu geben. Ein Sportler ist nicht gerade darauf erpicht, eine Vergangenheit zu haben; das bedeutet bloß, dass er am Ende ist. Ein Sportler will nur eine Gegenwart und eine Zukunft.
So viel weiß ich über mich selbst: Die sicherste Methode, michdazu zu bringen, etwas zu tun, ist, mir zu sagen, ich könne es nicht. Sagen Sie mir, dass ich auf keinen Fall die Tour de France nochmals gewinnen kann, und ich habe keine andere Wahl, als zu versuchen, sie nochmals zu gewinnen. In diesem Winter und Frühjahr bezweifelten die meisten Leute aus den unterschiedlichsten Gründen, dass ich in der Lage wäre, die Tour nochmals zu gewinnen. Die Früchte eines Tour-Sieges hatten mehr als einen Radrennfahrer ruiniert, hatten sie selbstgefällig werden lassen und ihre Karriere beendet, und ich wusste nun auch, warum.
Eine Sache ein zweites Mal zu machen gehört mit zum Schwierigsten überhaupt. Wenn man etwas schon einmal getan hat, hat man weniger Grund, es nochmals zu tun, da es so viele andere Dinge gibt, die man stattdessen tun könnte. Das stimmte mehr, als ich es mir eingestehen wollte. Mein tägliches Pensum nahm zu, nicht ab, und ich tat mich schwer, einen Ausgleich zwischen Privatleben, Arbeit, Training und geschäftlichen Verpflichtungen zu finden. Wann immer ich einer Sache zu viel Zeit und Aufmerksamkeit widmete, vernachlässigte ich
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