Jede Sekunde zählt (German Edition)
verzichten kann. Wann immer ich daran erinnert werden muss, denke ich an Sally Reeds Haar.
Als sich Sally im Sommer 1999 einer Krebsbehandlung unterzog, sah sie mir bei der Tour de France zu. Sie lag im Bett, krank und erschöpft nach einer ganzen Woche Chemotherapie. Aber jeden Tag schaltete sie den Fernseher ein und verfolgte Etappe um Etappe, wie ich durch die Berge fuhr und mich schließlich an die Spitze setzte. Sie ging ins Badezimmer, übergab sich und legte sich dann wieder ins Bett, um mich den nächsten Berg hinauffahren zusehen. Dann stand sie wieder auf, ging wieder ins Bad und übergab sich wieder. »Ich übergab mich und kehrte dann immer wieder zum Fernseher zurück, um neue Hoffnung zu schöpfen«, sagte sie.
Ich gewann die Tour an ihrem 50. Geburtstag. An dem Tag, als ich in Paris die Ziellinie überquerte, wurde sie 50 und verlor ihr ganzes Haar. Das Haar fiel ihr in Büscheln aus. Aber weil ich die Tour gewonnen hatte, kümmerte sie das nicht mehr. Sie fühlte sich so erfüllt von... etwas ..., dass es ihr nichts ausmachte. Stattdessen gingen sie und ihre Tochter hinaus auf die Terrasse. Der Wind wehte ihr die losen Strähnen ihres dünner werdenden Haars ins Gesicht, und Sally stand einfach da und riss sich behutsam den Rest ihrer Haare aus. Dann drehte sie sich um, warf die Strähnen in den Wind und sagte: »Sollen die Vögel ein Nest daraus bauen.«
Jede Versuchung, die ich haben könnte, über einen Verlust zu brüten, wird durch das Wissen gemildert, dass ich es mir leisten kann, mit Ausnahme meines und der Leben der Menschen, die mir wichtig sind, nahezu alles zu verlieren. Die alles andere als herausragende Saison 2000/2001 sollte mir zwar einige Niederlagen bescheren, sowohl im Sattel als auch sonst im Leben, aber ohne meine Vorgeschichte hätten mich diese Verluste unendlich härter getroffen. Wie Sally immer sagt: Mein Haus ist abgebrannt, aber ich kann den Himmel sehen.
In diesem Jahr nahm ein langer und harter Kampf um meinen Ruf seinen Anfang. Ich bin bestimmt der am häufigsten auf Doping getestete Mensch auf diesem Planeten. Ich muss pro Jahr zwischen 30 und 40 Dopingkontrollen über mich ergehen lassen, sowohl bei als auch außerhalb von Wettkämpfen, und ich finde das gut, weil das, ganz ehrlich gesagt, der einzige Beweis für meine Unschuld ist, den ich liefern kann.
Wie soll man die Nichtexistenz von etwas beweisen? Ich habe keine andere Wahl, als mich dieser endlosen Prozedur von Nadeln und Probebehältern zu unterwerfen, und zwar ohne Rücksicht auf die Uhrzeit oder darauf, wie unpassend der Moment ist. Meine Unschuld ist etwas, was ich nahezu täglich verkünden undbeweisen muss, und das auch nicht immer mit Erfolg. »Doper«, schreien mir die Franzosen hinterher. Das ist in Ordnung. Ich bin nicht nachtragend.
Ich bin noch nie bei einem Dopingtest durchgefallen. Nicht ein einziges Mal. Und das soll auch so bleiben, auf alle Zeiten. Und wissen Sie, warum? Weil das Einzige, was Sie jemals in meinem Blut finden werden, die Spuren harter Arbeit sind, und dafür gibt es keinen Test.
Gleichgültig, wie viele Tests ich schon gemacht habe, es gibt immer wieder Menschen, die mich trotzdem für schuldig halten, für eine Art Doping-Superhirn, das die Sportwissenschaftler der ganzen Welt an der Nase herumführt. In der Saison 2000/200 1 wuchs dieses Misstrauen stark an.
Eine Zeit lang unterstellten manche Leute sogar, man hätte mir während meiner Chemotherapie ein Wundermittel verabreicht. Journalisten riefen meinen Onkologen Dr. Craig Nichols an und wollten bis ins kleinste Detail wissen, wie und womit er mich behandelt hatte: Welche Medikamente genau hatte ich bekommen, und was genau bewirkten diese Mittel?
Als Nichols wieder einmal von einem Reporter dazu befragt wurde, auf welche Methoden er als mein Frankenstein schwören könnte, platzte ihm der Kragen.
»Ich habe ihm während der OP einen dritten Lungenflügel eingesetzt«, sagte er.
Er wartete auf Gelächter. Vergebens.
Die Skepsis, die mir entgegenschlug, schlussfolgerte Nichols, beruhte auf der Unfähigkeit zu glauben, dass man den Krebs nicht nur überleben, sondern danach auch wieder Leistungssport auf höchstem Niveau betreiben kann. Wenn man Krebs hat, denken die meisten Menschen, dann stirbt man, und wenn man die Behandlung überlebt, dann nur als Krüppel. Dadurch, dass ich vom Krebs zu einem erfüllten, produktiven Leben zurückgekehrt war, stellte ich diese Annahme infrage. Ich hatte mich verhalten, sagte
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