Jede Sekunde zählt (German Edition)
d’Orsay ein riesiges Diner ausgerichtet. Hunderte von Gästen waren anwesend, darunter auch 80, die eigens aus Austin eingeflogen waren. Irgendwann an dem Abend erhob ich mich und brachte einen Toast auf meine Teamkameraden aus. Wir feierten hier, sagte ich, weil wir härter als irgendwer sonst gearbeitet hatten. Wir waren jetzt nicht mehr die Außenseiter – wir waren dieChampions. »Ich denke, wir wissen jetzt, wie das hier läuft«, sagte ich. »Wir haben es begriffen, und jetzt können wir es immer wieder tun.«
Vorbei die Zeit, in der ich meine Karriere als Radrennfahrer als ein einmaliges Comeback gesehen hatte. Jetzt sah ich es als eine Bestätigung, als eine Fortsetzung dessen, was ich getan hatte, als ich den Krebs überlebt hatte. Doch als sich der Erfolg nun wiederholte, machte ich eine erfreuliche Erfahrung: Auch wenn man etwas ein zweites Mal erlebt, so ist es doch jedes Mal anders, ist jedes Erlebnis so einmalig wie ein Fingerabdruck.
Was war dieses Jahr anders als im vorangegangenen? Der zweite Sieg bei der Tour de France hatte mir mehr Leiden bereitet, mich häufiger körperlich bis an die Grenzen gefordert. Das erkannte ich allein schon daran, wie dünn ich geworden war, wie scharf sich meine Rippen und Schulterblätter unter dem Hemd abzeichneten. Auf der anderen Seite steigerte das Leiden auch die Freude an dem Sieg.
Zu einem guten Leben, fing ich an zu erkennen, gehört auch Leid, ebenso zwingend, wie Glückseligkeit dazugehört. Leid wirkt wie ein Verstärker. Es mag eine Minute andauern oder einen Monat, aber irgendwann lässt es nach, und wenn das passiert, dann tritt etwas anderes an seine Stelle, und vielleicht verleiht dieses »andere« mehr Raum. Für das Glück. Ich bin überzeugt, jedes Mal, wenn ich leiden musste, wuchs ich daran, ich lernte meine Fähigkeiten besser kennen – und nicht nur meine körperlichen, sondern auch meine inneren Fähigkeiten, meine Fähigkeit, Zufriedenheit zu empfinden, Freundschaft oder jedes andere menschliche Gefühl.
Der wirkliche Lohn des Schmerzes besteht in der Selbsterkenntnis. Hätte ich aufgegeben, der Schmerz hätte ewig angehalten, diese Niederlage, ja der kleinste Akt des Aufgebens hätte mich kleiner werden lassen, hätte für immer auf mir gelastet. Wann immer man aufgeben will, sollte man sich fragen, womit man lieber leben möchte: mit dem Schmerz oder mit der Resignation.
Nachdem alles vorbei war, gab jemand Bart ein Foto, das mich beim Anstieg zum Joux-Plane zeigt, leichenblass und im Delirium. Im Hintergrund ist Bart zu sehen, der neben mir herrennt und mich anfeuert. Hinter Bart kann man einen als Teufel verkleideten Typen sehen, eine dieser kostümierten Figuren, die immer wieder entlang der Tour auftauchen und dem ganzen Spektakel eine zirkushafte Atmosphäre verleihen. Es war, als repräsentierten sie die zwei Alternativen: dranbleiben oder aufgeben.
Für mich ist es ein klassisches Foto von Bart. Genau diese Art Freund ist Bart, ein Freund, der am schlimmsten Tag deines Lebens da ist und dir Mut macht. An deinem schlimmsten, nicht deinem ruhmreichsten Tag. An diesem Tag, meinem schlimmsten Tag, war einer meiner besten Freunde direkt hinter mir, rannte hinter mir her und brüllte mich an durchzuhalten. Vielleicht besteht darin der wahre Sieg, dass ich an meinen schlimmsten Tagen immer dieselben Leute um mich hatte, egal, ob ich an dem Tag in einem Krankenhausbett lag oder auf dem Rad saß und um ein Haar die Tour de France verloren hätte.
Bart schrieb etwas auf das Foto und gab es dann mir. »Lance, wir waren schon an vielen Orten... aber hierher kehren wir nicht mehr zurück, okay?«, las ich.
Ich habe das Bild rahmen lassen und bei mir zu Hause aufgehängt.
Kapitel 3
Gestern war der einzige gute Tag
A uch wenn es mir nicht leicht fällt, das zuzugeben: Manche Dinge kann man einfach nicht gewinnen. Ich bin es nicht gewohnt zu verlieren, egal, ob es um ein Rennen oder ein Streitgespräch geht. Und dennoch hätte ich um ein Haar einige sehr wichtige Dinge verloren: mein Leben, meinen Hals und meinen guten Namen. Aber dafür habe ich auch etwas gewonnen: Die Erkenntnis, dass ein Leben ununterbrochener Erfolge nicht nur unmöglich, sondern wahrscheinlich noch nicht einmal gut für einen ist.
Manche Verluste kann man leichter hinnehmen als andere, manche Dinge sind unersetzbar, und wie schwer ein Verlust wiegt, kann sich in Krisenzeiten schlagartig verändern. Es ist überraschend, worauf alles man, je nach den Umständen,
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