Jede Sekunde zählt (German Edition)
Verletzung nochmals stürzen, könnte das verheerende Folgen haben.«
Er erklärte mir die Risiken. Es könnte Wochen dauern, bis mein Hals wieder voll beweglich war und ich den Kopf ganz drehen konnte, und mit einem eingeschränkten Sichtfeld wäre ich auf der Straße einem deutlich höheren Unfallrisiko ausgesetzt. Ob ich gesund genug wäre zum Trainieren, hinge dann ganz von meiner jeweiligen Tagesform ab, aber er würde mir davon abraten. Ich versprach ihm, mir seinen Rat durch den Kopf gehen zu lassen. Dann kehrte ich nach Hause zurück und legte mich ins Bett.
Ich musste eine Entscheidung treffen. Was mich betraf, war die Sache klar: Wenn ich fahren konnte, würde ich nach Sydney gehen. Stürze sind beim Radfahren ebenso unvermeidlich wie Pech, und wer Angst davor hat, vom Rad zu fallen, ist gut beraten, sich erst gar nicht auf den Sattel zu setzen. Olympia durfte ich mir nicht durch die Lappen gehen lassen; die Olympischen Spiele waren einfach zu wichtig, eines der wenigen Radrennereignisse weltweit, für die sich das amerikanische Publikum interessierte. Ich könnte die Tour sechsmal gewinnen, aber wenn ich kein olympisches Gold holte, würden die Leute in den USA sagen: »Was stimmt nicht mit diesem Typen? Ich dachte, er wäre ein guter Radrennfahrer?«
Darüber hinaus waren die Spiele für mich selbst wichtig. Bislang hatten die Olympischen Spiele mir nichts außer Niederlagen und Verlusten beschert, und das wollte ich unbedingt ändern. Die beiden Male, wo ich dabei gewesen war, hatte ich nicht gerade geglänzt.
1992 in Barcelona hatte ich als unerfahrener Heißsporn ein miserables Rennen abgeliefert und war als Letzter ins Ziel gekommen. Bei den Spielen von Atlanta 1996 ging ich als amerikanischer Favorit an den Start, aber auch dieses Mal fuhr ich enttäuschend und landete außerhalb der Medaillenränge, auf dem 6. Platz beim Einzelzeitfahren und auf dem 12. beim Straßenrennen. In Atlanta hatte ich mich gefühlt, als würde ich einen Schachtdeckel hinter mir herziehen, und hatte das damals auf falsches Training und meine Nervosität zurückgeführt. Doch kurz darauf wurde Krebs diagnostiziert. Ich war, wie sich zeigte, mit einem Dutzend Tumoren in der Lunge in die Rennen gegangen. Der Krebs hatte mir die Chance geraubt, auf heimischem Boden olympisches Edelmetall zu gewinnen.
Und es gab noch einen Grund, warum ich in Sydney dabei sein wollte. Die Olympischen Spiele endeten am 2. Oktober, auf den Tag genau vier Jahre nach meiner Krebsdiagnose. An diesem Tag bei den Spielen zu sein wäre ein weiterer Triumph über dieKrankheit. Zudem war der Coach des amerikanischen Teams mein guter Freund Jim Ochowicz, der bei jedem meiner Krankenhausaufenthalte und bei den Chemotherapie-Zyklen bei mir am Bett gesessen hatte. Jim war es gewesen, der zu Beginn meiner Karriere einen Radchampion aus mir gemacht hatte, und Jim war der Pate von Luke. Ich wollte wieder für ihn fahren, und ich wollte den vierten Jahrestag meiner Krebsdiagnose bei den Olympischen Spielen mit einer Goldmedaille als krönendem Abschluss feiern.
Nach ein paar Wochen – mein Hals war zwar immer noch steif, fühlte sich aber schon deutlich besser an – fing ich wieder mit dem Training an. Unterdessen hatten mehrere prominente Straßenprofis ihre Teilnahme an den Spielen abgesagt, und in der Presse wurde spekuliert, dass sie das aus Angst vor den Dopingkontrollen in Sydney getan hatten. Sportreporter riefen mich an und wollten wissen, ob ich nach Sydney kommen würde, wobei der Hintersinn der Frage auf der Hand lag: Sollte ich nicht kommen, würde das darauf hindeuten, dass ich etwas zu verbergen hatte. Was sie nicht wussten, war, wie sehr ich darum kämpfte, mich fit für Sydney zu machen.
Ich war noch nie in Australien gewesen und entsprechend aufgeregt, als ich in Sydney ankam. Meine Form war ganz passabel, und ich war fest entschlossen, hier zu gewinnen; schließlich war das der einzige wirkliche Grund, warum ich gekommen war. Zweimal hatte ich an den Olympischen Spielen teilgenommen, und zweimal war ich ohne Medaille heimgefahren – ich war nicht des Urlaubs wegen in Sydney, sosehr mir Australien auch gefiel.
Der erste – und schwierigere – der beiden Wettbewerbe war ein Straßenrennen über 238 Kilometer. Der lange, flache Kurs war nicht gerade günstig für das US-Team. Da es keine großen Steigungen gab, die das Feld auseinander reißen würden, war ein Massensprint absehbar. Der Gewinner würde sich seinen Weg durch ein dichtes
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