Jede Sekunde zählt (German Edition)
sonst, in mein aschfahles Gesicht und meine rot geränderten, stark blutunterlaufenen Augen. Er sah, wie das Rad unter mir ungleichmäßig hin- und herschwankte, und er wusste genau, was los war.
Aber dieses Mal konnte er mich nicht den Berg hinaufschieben. Also tat er das Nächstliegende: Er rannte neben mir her und schrie mich an. »Geh, geh, geh, geh, geh!«, brüllte er. »Du schaffst das! Nur nicht anhalten!«
Von mir kam kein Zeichen, dass ich ihn hörte oder sah. Ich starrte einfach stur geradeaus. Bart rannte trotzdem weiter, den Berg hoch, und schrie: »Komm! Los, weiter! Nur noch diesen Berg hinauf!« Schließlich wurde die Steigung zu viel für ihn, und er konnte nicht mehr mithalten.
Mir war in diesen Minuten nicht richtig bewusst, dass er da war. Ich erinnere mich nicht einmal daran, dass ich ihn gesehen habe. Alles, woran ich mich vage erinnern kann, ist seine Stimme. Irgendwie schien sie im Hintergrundrauschen unterzugehen, aber sie war da. Ich glaubte, Bart über den Funk zu hören.
Plötzlich knackte es, und ich hatte Johans Stimme im Ohr. Offenbar hatte ich ihm mehrere Minuten lang nicht geantwortet. Ich weiß nicht, ob in den Bergen der Funkkontakt unterbrochen gewesen war oder ob ich einfach auf dem Rad geistesabwesend gewesen war.
»Lance, sprich mit mir«, drängte Johan durch das Knistern des Funkgeräts. »Wo bist du? Warum antwortest du nicht?«
»Alles in Ordnung«, sagte ich.
»Du musst mit mir reden«, sagte Johan.
»Alles in Ordnung, alles in Ordnung«, brabbelte ich. »Ich hab mit Bart gesprochen.«
»Was?«
»Ich hab mit Bart gesprochen«, wiederholte ich benebelt. Ich war im Delirium.
Ich weiß bis heute nicht, was genau mich in diesem Zustand auf dem Rad gehalten hat. Was bringt jemanden dazu, in die Pedale zu treten, bis er das Bewusstsein verliert? Vielleicht schlicht der Umstand, dass es möglich ist? Auf einer gewissen Ebene spielte der Krebs immer noch eine Rolle: Die Krankheit hätte mich fast umgebracht, und als ich ins Renngeschäft zurückkehrte, wusste ich, dass meine Leidenszeit schwerer zu ertragen war als jedes Rennen. Auf dieses Wissen konnte ich immer zurückgreifen, und das gab mir Kraft. Ich war niemals ganz leer. Hatte ich all das durchgemacht, um dann aufzugeben? Nein! Niemals!
Aber es war auch Bart, der mich auf dem Rad hielt. Falls sich mein Kopf jemals die Frage nach dem Aufhören gestellt haben sollte, Barts Stimme gab ihm die Antwort: Niemals! Alleine hätte ich es nicht geschafft – und habe es auch nicht. Was immer ich als Radfahrer erreicht habe, ist das Resultat von unzähligen Partnerschaften und Beziehungen, und jeder Radrennfahrer, der wirklich glaubt, alles ganz allein erreicht zu haben, ist dazu verurteilt, einsam zu sein und zu verlieren. Tatsache ist, das Leben hält für jeden von uns mehr als genug einsame Zeiten bereit.
Falls ich in der Hinsicht irgendwelche Zweifel gehabt haben sollte, wurden sie von dem ausgelöscht, was als Nächstes passierte. Ungefähr auf halbem Weg zum Gipfel erhielt ich völlig unerwartete Hilfe von zwei Fahrern, die zu mir aufgeschlossen hatten. Roberto Conti und Guido Trentin, zwei gute, starke und angesehene Fahrer, mit denen ich auf einigermaßen gutem Fuß stand, erfassten sofort, in welchem Zustand ich mich befand. Was dann passierte, ist ein klassisches Beispiel für die Kameradschaftunter Radrennfahrern, ein Beispiel, das ich nie vergessen werde: Conti und Trentin blieben bei mir und halfen mir auf den Gipfel hinauf. Ohne dass ich sie gefragt hätte, setzten sie sich vor mich, ließen mich in ihrem Windschatten fahren, zogen mich mit und ersparten mir ungezählte Mühen und Schmerzen. Es war eine für die Tour typische Geste; wir waren Konkurrenten, aber wir teilten eine gemeinsame Leidenschaft für extremes körperliches Leiden. Ohne Conti und Trentin – wer weiß, wie viel Zeit ich bis hinauf ins Ziel verloren hätte?
Zu meinem großen Glück ging es auf den letzten paar Kilometern der Etappe bergab. Nachdem Bart und meine anderen Retter mich den Joux-Plane hinaufgezogen hatten, hängte ich mich über den Lenker und ließ mich bis zur Ziellinie rollen. Am Ende hatte ich gerade einmal 90 Sekunden verloren. Aber ich hätte ebenso gut alles verlieren können, und das wusste ich auch.
»Heute hätte ich die gesamte Tour verlieren können«, gestand ich später der Presse gegenüber ein, und als ich Jeff Garvey, einen Freund aus Austin, erblickte, meinte ich: »Und, hat dir die Amateurstunde bei der
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