Jede Sekunde zählt (German Edition)
Tour de France gefallen?«
Ansonsten erinnere ich mich kaum, was ich von dem Moment an, als das Leiden anfing, bis zu dem Moment, als ich die Ziellinie überquerte, gesagt oder getan habe. Nur ein Beispiel: Nach dem Rennen kam Chris Carmichael in mein Hotel, um mich abzuholen.
»Wo zum Teufel bist du gewesen«, fuhr ich ihn an, kaum dass er im Zimmer stand.
»Wie, was meinst du damit?«, fragte er. »Ich war da, genau in dem Moment, als du die Linie passiert hast.«
»Ehrlich?«
Beim Dinner an diesem Abend bat ich das gesamte Postal-Team um Entschuldigung. Um ein Haar hätte ich die Anstrengungen aller Beteiligten zunichte gemacht. »Ich werde so etwas nie, nie mehr tun«, gelobte ich. Im Rückblick war es eine großartige Lektion: Die Berge sind so gnadenlos, dass du in einer schlechten Stunde, in einer schlechten Minute alles verlieren kannst.
Die nächste Frage war, ob ich mich von dieser Strapaze wieder erholen würde? Wie viel hatte es mich gekostet, diesen Berg hinaufzukommen? Das ist nicht viel anders, als wenn man ein Auto ohne Motoröl fährt; die Überlastung kann sozusagen zu einem Schaden am Getriebe führen und die körperliche Leistungsfähigkeit ruinieren, die ich in langen Monaten aufgebaut hatte. Manche Fahrer litten unter furchtbaren Magenproblemen – wie Pantani, der Magenkrämpfe hatte, die so schlimm waren, dass er am nächsten Morgen nicht mehr auf das Rad steigen konnte und das Rennen abbrechen musste. Falls es mir nicht gelang, mich zu regenerieren, drohte mir ein neuerliches Desaster. Zu meiner großen Erleichterung jedoch fühlte ich mich an diesem Abend sehr gut und sehnte mich nur nach Schlaf, viel Schlaf.
Auch für Kik, die zu Hause vor dem Fernseher saß und genau wusste, was los war und wie sehr ich litt, war die ganze Sache eine Tortur.
Ich rief zu Hause an. »Das war der schlimmste Tag, den ich je auf einem Rad hatte«, sagte ich. »Um ein Haar hätte ich die Tour de France verloren.«
»Aber du hast es nicht«, gab sie zurück.
Das war der letzte Tag des Zweifels. Nun blieben nur noch die letzten, ereignislosen Etappen bis Paris, und als wir uns der französischen Hauptstadt näherten, erlaubte ich mir endlich zu akzeptieren, dass ich die Tour de France ein zweites Mal gewonnen hatte. Aber ich war noch nicht ganz zufrieden. Ich wollte den verschenkten Etappensieg gutmachen. Die Sache mit Pantani nagte immer noch an mir
Am 22. Juli tat ich das, was ich bislang noch nicht getan hatte, und holte mir den Etappensieg bei dem 57 Kilometer langen Einzelzeitfahren von Freiburg in Deutschland nach Mulhouse im Elsass. Ich fuhr voll auf Sieg – so, wie es der Führende im traditionellen Gelben Trikot tun sollte. Ich wollte dem Trikot die Ehre erweisen und mich endlich wie ein wirklicher Sieger fühlen. Völligausgepumpt überquerte ich die Ziellinie. Meine Augen waren glasig, und Speichel hing mir aus dem Mund. Jemand stellte mir eine Frage, aber ich schaffte es nicht, ihm zusammenhängend zu antworten. Ich ging einfach in die Richtung, die man mir bedeutet hatte. Mir war kaum bewusst, was ich gerade getan hatte: Ich hatte das Zeitrennen mit der zweitschnellsten Zeit in der 87-jährigen Geschichte der Tour gewonnen, in 1:05:01 Stunden.
Über dem Hôtel de Crîllon in Paris wehte eine riesige texanische Flagge. Auf der letzten Etappe schließlich erlaubte ich mir ein Glas Champagner, während wir auf den Rädern Richtung Paris rollten. Dann endlich, nach 3652,5 Kilometern und 92 Stunden, 33 Minuten und acht Sekunden im Sattel fuhr ich in Paris über die Ziellinie. Auf dem Podium drückte mir Kik unseren neun Monate alten Sohn in die Arme, und mit Tränen in den Augen hielt ich ihn in die Höhe.
Ullrich war ein guter zweiter Sieger. »Armstrong hat es verdient«, sagte er. »Er hat jeden unserer Angriffe abgewehrt.« Nach dem ganzen Gerede anderer Radrennfahrer, dass ich meinen Erfolg nicht wiederholten könnte, bedeuteten mir Ullrichs Worte umso mehr. Aus den Leuten, die dachten, sie könnten die Tour gewinnen und mich schlagen, hätte man ein ganzes Team zusammenstellen können. Nun, sie alle sind jetzt hier, dachte ich. Aber ich war nicht mehr auf Rache aus. Meine Rachegelüste hatte ich am Joux-Plane zurückgelassen. In jedem Rennen kommt der Moment, in dem man auf seinen wirklichen Gegner stößt – und erkennt, dass man selbst dieser Gegner ist.
Anlässlich des Tour-Siegs wurde an diesem Abend in einem prächtigen, mit Deckenfresken geschmückten Ballsaal des Musée
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