Jede Sekunde zählt (German Edition)
sie.«
Damit hatte sie Recht. »Yeah, und ich hab sie auch nicht bekommen«, sagte ich. »Ich habe versagt.«
»Weißt du was?«, fragte sie. »Der Tag wird kommen, an dem Luke sich ein Ziel setzen und es nicht erreichen wird. Das wird ihm das Herz brechen, und er wird glauben, dass sein Dad, der große Champion, ihn nie verstehen wird. Aber da gibt es dieses Videoband von dem Tag in Sydney, an den er sich nicht mehr erinnern wird, weil er zu jung war, ein Tag, an dem ein Mann gezeigt hat, wie man mit Anstand verliert. Und ich werde es ihm zeigen und sagen, dass ich dich niemals mehr geliebt habe.«
Am Thanksgiving Day 2000, knapp zwei Monate nach meiner Rückkehr aus Sydney, gaben die französischen Behörden bekannt, dass sie gegen mich wegen des Verdachts auf Doping ermittelten.
Ich war fassungslos. Ich wurde nicht einfach als Betrüger bezeichnet,sondern als Verbrecher, gegen den von Amts wegen ermittelt wird.
Ich griff zum Telefon und rief Bill Stapleton an, der Urlaub hatte und gerade mit seiner Frau und seinen Kindern im Park spazieren ging. »Was zum Teufel ist da los?«, fragte ich. Bill versprach, sich in der Sache kundig zu machen und dann zurückzurufen. Nach einer Weile war er wieder am Telefon. »Es ist lachhaft«, sagte er, »aber wir müssen Geduld haben.«
Folgendes war passiert: Während der Tour hatte jemand unseren Teamarzt und unseren Chiropraktiker heimlich dabei gefilmt, als sie ein paar Tüten mit Abfall wegwarfen, und das Band ohne Absender einem französischen Staatsanwalt sowie dem Fernsehsender France 3 zugespielt. Der Sender hatte das Band ausgestrahlt und unser »verdächtiges Verhalten« bei der Beseitigung von »medizinischem Abfall« zu einer Sensationsstory aufgebauscht – Grund genug für die französischen Behörden, eine strafrechtliche Ermittlung gegen uns einzuleiten.
Ich hängte mich ans Telefon, um herauszufinden, wie wir in diesen Schlamassel geraten waren. Unser Teamarzt und unser Chiropraktiker bestätigten mir, dass sie nach der Etappe nach Morzine den bei unserer medizinischen Behandlung anfallenden Abfall wie immer in Plastiksäcke gepackt hätten. Da es unter den französischen Journalisten leider auch einige gab, die vor allem darauf aus waren, mich des Dopings zu überführen, und es sich deshalb zur Angewohnheit gemacht hatten, unseren Abfall nach Hinweisen auf Doping zu durchstöbern, wollten sie die Tüten nicht im Hotel zurücklassen. Also beschlossen sie, der Presse eins auszuwischen, die Tüten aus dem Hotel mitzunehmen und irgendwo an der Straße in eine Mülltonne zu werfen. Das war ihr »verdächtiges Verhalten«.
Der »medizinische Abfall« bestand aus ein paar Zellophanhüllen, einigen Wattebäuschen und ein paar leeren Schachteln, das war alles. Wie in den Vereinigten Staaten unterliegt auch in Frankreich die Entsorgung von gefährlichen medizinischen Abfällenwie Spritzen und Nadeln strengen Vorschriften. Diese hatten wir wie vorgeschrieben entsorgt und in gelbe Biogefahrstoffbehälter gepackt und ordnungsgemäß von einem darauf spezialisierten französischen Entsorgungsunternehmen abholen lassen.
Durch den Sprecher des Postal-Teams, Dan Osipow, ließ ich umgehend eine scharfe Gegendarstellung veröffentlichen. Unser Team, gab Osipow bekannt, habe »null Toleranz« für welche Form des Dopings auch immer. Das klang zwar wie die in solchen Fällen üblichen, klischeehaften Verlautbarungen, aber wir meinten jedes Wort ernst. Wir waren absolut unschuldig.
Doch die Frage nach der Unschuld spielte, wie sich schnell zeigen sollte, erst einmal keine große Rolle. Das französische Rechtssystem kam mir wie eine Umkehrung des amerikanischen Rechtssystems vor; es schien keine Unschuldsvermutung zu kennen, und nach dem Wenigen zu urteilen, was ich wusste, genügten den französischen Strafverfolgungsbehörden weitaus weniger Verdachtsmomente als den amerikanischen, um aktiv werden. Meine Hauptsorge war, dass man mich, sollte ich in mein Haus in Frankreich zurückkehren, vor laufenden Kameras festnehmen und in Handschellen abtransportieren würde.
Als Erstes besorgten wir uns einen französischen Anwalt, einen Gentleman namens George Kiejman, der einmal auch Robert de Niro vertreten hatte, und ließen uns von ihm das französische Rechtssystem erklären. Kiejman erklärte uns, dass es einen juge d’instruction gibt, einen Untersuchungsrichter, der die vorliegenden Indizien bewertet und eine ähnliche Funktion erfüllt wie eine Grand Jury in den
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