Jede Sekunde zählt (German Edition)
Rennräder, eigene Mechaniker und bessere Unterkünfte. Ich hatte es bekommen – aber gewonnen hatte ich nicht. Ich erhob mich zu einem Toast und einer Entschuldigung.
»Ich will, dass ihr alle wisst, wie Leid es mir tut«, fing ich an. »Ich weiß, wie viel Zeit und Kraft ihr alle investiert habt, um mir zu ermöglichen, hierher zu kommen und hier zu sein. Ich weiß zu schätzen, was jeder von euch dafür getan hat, und ich will, dass ihr das wisst. Ich konnte einfach nicht noch härter, noch schneller fahren. Es tut mir Leid, dass ich nicht gewonnen habe.«
Der nächste Tag war der 2. Oktober, und Kik und ich hatten für diesen Tag einen Ausflug ins australische Weinland geplant. Doch die Enttäuschung darüber, olympisches Gold verpasst zu haben, saß tiefer, als ich gedacht hatte. Sosehr ich auch versuchte, den Tag zu genießen, die Weinproben und das Essen auf einer wunderschönen Terrasse mit einem herrlichen Blick über das Land, ich tat mich schwer, mich mit Kik zu unterhalten, und gegen Abend war ich abwesend und einsilbig.
Am nächsten Morgen flog ich zu einer Veranstaltung nach San Francisco, für die ich seit längerem als Redner gebucht war. Bei der Landung war ich immer noch sauer auf mich, was auch Kik nicht entging, als ich sie anrief, um ihr zu sagen, dass ich gut gelandet war. Plötzlich war sie auch sauer.
»Weißt du, ich war noch nie so stolz auf dich wie vorgestern, als du verloren hast«, sagte sie. »Aber du kapierst es einfach nicht. Du kapierst es kein bisschen. Du bist schlecht gelaunt und lässt dasalle Welt deutlich spüren. Du hast keine Ahnung, wie gut es uns geht. Wir hatten einen wundervollen Tag, einen Tag, an dem wir allen Grund hatten, dankbar zu sein, und du hast ihn uns einfach verdorben.«
Sie hatte Recht, und ich wusste es. Ich entschuldigte mich. Kiks Ausbruch brachte mich dazu, über das Gewinnen und Verlieren nachzudenken und darüber, wie ich mit dem einen und dem anderen umging. Wenn man gewinnt, gratuliert man sich selbst und denkt ansonsten nicht allzu viel darüber nach. Man kann sehr leicht zu der trügerischen Annahme gelangen, es hätte etwas damit zu tun, dass man ein so außergewöhnlicher und herausragender Mensch ist. Aber ein Sieg im Sport ist nur ein Maß dafür, wie hart man gearbeitet und welche körperlichen Voraussetzungen man hat; davon abgesehen sagt das Gewinnen wenig darüber aus, wie und wer man ist.
Das Verlieren dagegen sagt viel mehr darüber aus, wer und wie man ist: Schiebt man die Schuld auf andere, oder übernimmt man selbst die Verantwortung? Analysiert man seinen Misserfolg, oder beklagt man sich nur über sein Pech?
Wer bereit ist, Niederlagen zu analysieren und dabei nicht nur seine äußere, körperliche Leistung, sondern auch sein Inneres unter die Lupe zu nehmen, der kann aus Niederlagen wertvolle Erkenntnisse ziehen. Wie wir uns in solchen Momenten verhalten, definiert uns wahrscheinlich mehr, als es Siege jemals könnten. Manchmal erkennen wir erst in der Niederlage, wer wir wirklich sind.
Am darauf folgenden Tag flog ich nach Hause, fest entschlossen, bis zum nächsten Frühjahr an meiner inneren Einstellung zu arbeiten. Luke machte seine ersten Schritte, und wir feierten seinen ersten Geburtstag im Chuys, einem mexikanischen Restaurant in Austin. »Luke hat mir gesagt, dass er hier essen will«, sagte ich zu Kik. Luke kritzelte die Speisekarte voll, verstreute Tortillachips auf dem Boden und aß Quesadillas, während Kik und ich uns einen lange entbehrten Margarita-Swirl gönnten.
Kik überraschte mich, als sie die Bronzemedaille bei uns zu Hause an einem Ehrenplatz aufhängte. Sie beharrte darauf, dass der Tag, an dem ich Bronze gewonnen hatte, einer ihrer schönsten Tage gewesen sei. Ich sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.
»Mein Ziel war die Goldmedaille«, sagte ich.
»Ebendeshalb«, gab sie zurück.
Vielleicht besteht der Unterschied zwischen einem Jungen und einem erwachsenen Mann, zwischen trotzig hochgezogenen Schultern und einem entspannten Schulterzucken, in der Art und Weise, wie man mit sich selbst umgeht, wenn man nicht bekommt, was man haben möchte. »Ich war niemals stolzer auf dich«, sagte Kik, »keine einzige Sekunde. Nicht einmal auf den Champs-Élysées im Sommer 1999 und 2000. Dein dritter Platz gehört mit zum Schönsten, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. Weil du diese Goldmedaille unbedingt haben wolltest und weil du das niemandem jemals wirklich gesagt hast. Aber du wolltest
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