Jede Sekunde zählt (German Edition)
ich die verschiedenen Tests über mich ergehen ließ. Ich erklärte mich einverstanden, bereute es aber spätestens in dem Moment, als meine Lunge geröntgt wurde und ich dachte: Leute, wir haben keine Ahnung, was dabei herauskommt. Schafft eure Kamera hier raus!
Ein Test folgte auf den anderen, und alle schienen etwas von mir zu wollen, Krankenschwestern, die zahllose Formulare unterschrieben haben wollten, oder Techniker, die Lust auf einen kleinen Plausch hatten. Keiner schien zu verstehen, dass mich nur ein Blick auf einen CT-Scan von einer potenziellen Katastrophe trennte. Sie standen herum, aßen Doughnuts, baten um Autogrammeoder wollten Bilder machen. Dass ich gesund war, stand für sie von vornherein fest.
Mit einem Mal wollte ich nur noch alleine sein, ich fühlte mich völlig ausgeliefert. Vom Kopf her wusste ich, dass die Gefahr eines Rückfalls gering war. Dennoch hatte ich Angst vor den Testergebnissen. Ich würde alles für die Gemeinschaft der Krebskranken tun, an jeden Ort reisen, alles signieren, mit jedem reden, aber nicht in diesem Moment, weil ich jedes Mal eine Höllenangst durchlitt.
Ich wollte einfach nur ein ganz normaler Patient sein, ein bisschen Intimsphäre haben und ein wenig Raum für was auch immer da kommen mochte. Gleichgültig, ob es ein Anlass zur Freude oder etwas Furchtbares sein würde, ich wollte nicht, dass dieser Moment gefilmt wurde. In diesem Moment wollte ich einfach nur alleine sein.
Die Tests ergaben keinen Befund.
»Alles in Ordnung«, sagte Dr. Nichols. Kik schlang ihre Arme um mich, und ich lächelte vor Erleichterung.
Ich habe mich nie an die damit einhergehende Empfindung gewöhnt, ein Gefühl der absoluten Reinheit. Ich war sauber. Die Röntgenaufnahmen und Scans waren Belege dafür, dass ich geheilt war, dass ich, im wahrsten Sinne des Wortes, heil war. So ließ ich mich gerne fotografieren. Diese Aufnahmen zeigten einen Mann: fünf Sinne, ein gesunder Appetit, ein zugegebenermaßen selektiver Intellekt, eine bewusste Seele mit einem Nervensystem, vier Gliedmaßen und einer Wirbelsäule mit in unterschiedlichem Maße, aber nicht allzu schlimm abgenutzten Wirbeln, eine kleine, runde Narbe auf dem Brustkorb, eine hufeisenförmige Operationsnarbe auf dem Schädel, ein Schnitt in der Leistengegend. Ein Körper, der an manchen Stellen ein bisschen vernarbt ist und dem möglicherweise ein oder zwei Dinge fehlen. Aber nicht allzu viel.
Die Ermittlungsakte der Franzosen im Fall Lance Armstrong wurde immer dicker. Auf der Umschlagseite prangte ein Bild vonmir, ein Siegerfoto von der Tour de France, auf dem ich mit einer amerikanischen Flagge in der Hand über die Champs-Élysées fahre.
Darüber hatte jemand ein Bild von einer Spritze montiert. So viel zur Unschuldsvermutung und Unparteilichkeit der französischen Ermittler.
Die Monate vergingen, ohne dass die Testergebnisse vorgelegt wurden. Ich war mir hundertprozentig sicher, dass die Proben absolut sauber waren – und zweifelsohne wussten sie das nach dieser langen Zeit auch. Gleichgültig, wie viele Tests sie durchgeführt haben mochten, es fiel mir schwer zu glauben, dass sie so viel Zeit dafür benötigt hatten. Die Strafverfolger weigerten sich, irgendetwas zu bestätigen oder zu dementieren; stattdessen beharrten sie darauf, weitere Tests durchführen und den Fall so lange offen halten zu müssen.
Unterdessen galt jeder, der mit mir arbeitete, automatisch als mitschuldig. So wurde zum Beispiel mein Trainer Chris Carmichael von der Presse aufs Korn genommen. Wenn ich Dopingmittel nahm, dann, so unterstellten ihm einige Journalisten, musste er sie mir gegeben haben.
»Kannst du dir das vorstellen?«, empörte sich Chris. »Da reißt du dir den Arsch auf, und dann sagen die Leute, dass du geschummelt hast.«
»Vergiss es«, sagte ich. »Sonst bist du drauf und dran, ihnen in die Falle zu gehen.«
Chris arbeitete mit einem Eishockeyspieler namens Saku Koivu, seines Zeichens Kapitän der Montréal Canadiens, bei dem Non-Hodgkin-Lymphom diagnostiziert worden war und der zu der Zeit ein bemerkenswertes Comeback hinlegte. Koivu war just zu dem Zeitpunkt für karzinomfrei erklärt worden, als die Canadiens um einen Platz in den Playoffs kämpften. Der Eigentümer der Canadiens, George Gillet, hatte Kontakt zu Chris aufgenommen und ihn beauftragt, Koivu in der Phase seiner Genesung zu unterstützen. Einen Monat nachdem Koivu seine Chemotherapie abgeschlossenhatte, fing Chris mit einem langsamen körperlichen
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