Jede Sekunde zählt (German Edition)
bestimmte Zeitspanne oder einen Ort begrenzte Erfahrung.
An manchen Tagen kam es mir vor, als läge die Krankheit Ewigkeiten zurück, an anderen schien es, als sei es erst gestern gewesen. Ich hatte das seltsame Gefühl, immer noch Gifte aus meinem Körper auszuscheiden, ich fürchtete, dass die Toxine immer noch in mir waren. Mein Körper war nicht nur mit den chemischen Hämmern der Chemotherapie verseucht worden, sondern auch mit den Anästhetika von zwei Operationen. Narkosemittel können in den Zellen zurückbleiben. Auf gewisse Weise ist eine Vollnarkose eine Nahtoderfahrung; man wird mit Chemikalien überschwemmt und künstlich in eine Bewusstlosigkeit versetzt, die so tief ist, dass man nur einen Millimeter vom Tod entfernt ist. Und dann wird man mit noch mehr Chemikalien genau an diesem Punkt gehalten.
Mein Kopf war rasiert und mit kleinen bunten Punkten bedeckt. Der Chirurg erklärte die Prozedur, als handle es sich dabei um ein Stück Holz. »Wir sägen einfach einen kleines Kreis aus, nehmen den Deckel ab, ent fernen die Tumore, packen den Deckel wieder darauf und verschließen das Ganze wieder.«
So sprach er von meinem Schädel.
Ich machte mir immer noch Sorgen um meine Gesundheit. Schon kleine Dinge, die andere Leute einfach so abtaten, eine Beule zum Beispiel oder ein leichter Kopfschmerz, weckten in mir die Angst, dass der Krebs zurückgekehrt sei. Bei uns zu Hause wurde noch die kleinste Erkältung ernst genommen und löste akribische Ursachenforschung, erschöpfende Diskussionen und ganz allgemein Angstgefühle aus.
Ein leichtes Ermüdungsgefühl, und schon rief ich verängstigt bei meinen Ärzten und Trainern an. Ich trug immer Socken, selbst im Haus lief ich niemals barfuß herum, und immer hatte ich ein Tuch um den Hals. Ein Schniefer war Grund genug für eine lange Diskussion, einen Mittagsschlaf und einen Teller heiße Suppe. Wenn ich mich nicht ganz wohl fühlte oder nach einem Tag auf dem Rad ungewöhnlich erschöpft war, zog ich mich in das Schneckenhaus der Angst zurück, und jeder, der in meine Nähe kam, konnte meine starke Anspannung spüren.
In Portland begaben Kik und ich uns in die Klinik der Oregon Health Sciences University, wo ich eine ganze Serie von Krebstests über mich ergehen lassen musste. Wir versuchten stets, die Visiten bei Dr. Nichols wie eine Routineuntersuchung zu behandeln, aber das waren sie nicht. Die Testergebnisse würden entweder perfekt oder verheerend ausfallen. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Krebs oder kein Krebs. Sollte der Krebs zurückgekehrt sein, blieb mir nur noch eine einzige – und nicht sonderlich große – Chance: eine noch intensivere Chemotherapie.
Ich war müde, wenn ich aufwachte, müde, wenn ich aß, müde, wenn ich eine Dusche nahm. Ich schlief 20 Stunden pro Tag; es war, als ob ich das stärkste dem Menschen bekannte Schlafmittel nehmen würde. Eines Morgens war ich zu müde, um es alleine ins Badezimmer zu schaffen. »Ich glaube, ich muss mich übergeben«, sagte ich zu meiner Mutter. Sie half mir aus dem Kran kenhausbett. Auf sie gestützt, humpelte ich durch das Zimmer, zusammengekrümmt und mit offenem Nachthemd.
Insgeheim verfluchte ich die Krankenschwestern, die mich mit ihren Nadeln stachen, mir Blut abnahmen und meinen Blutdruck maßen. Ich lag im Bett, eingeschlossen von den farblosen Wänden meines Krankenhauszimmers, ein gut drei mal fünf Meter messendes Rechteck mit einem Fenster mit Blick auf ein benachbartes Ziegelgebäude; auf dem Boden grünes Linoleum, die Wände beige, die Bettdecken hellbraun. Aber ich war zu müde, um aufzustehen und etwas zu unternehmen. Stapleton, Och und ich spielten Karten, bis mir vor lauter Müdigkeit die Augen zufielen. Wir spielten so viel Karten, dass wir unsere eigene Kartensprache erfanden. Buben waren Diebe, Könige Cowboys. In einer Ecke des Zimmers war ein Fernseher montiert. Wenn nichts kam außer Baseball, warf ich dem Apparat böse Blicke zu, nörgelte, dass ich Baseball hasse – und schaute es mir trotzdem an.
Vor den jährlichen Check-ups waren Kik und ich immer angespannt, aber damals war es wegen der vielen anderen Probleme, die uns das Leben vermiesten, besonders schlimm. Da die Ärzte und Krankenschwestern, was meine Krankheit anging, weitaus optimistischer waren als ich, kann es sein, dass sie nicht merkten, wie nervös wir waren.
Zufällig drehte an diesem Tag ein Kamerateam einen Unterrichtsfilm über Krebs, und sie fragten, ob sie filmen dürften, während
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