Jede Sekunde zählt (German Edition)
Gesimsen und zwei kleinen Gärten mit Springbrunnen aus Stein ist zauberhaft. Das Herzstück aber ist die kleine Familienkapelle mit ihren tiefblauen Wänden, vergoldeten Sternen und einem kleinen Altar aus Holz.
Die mit Fresken bedeckten Wände ließ ich von Handwerkerinnen aus Barcelona so restaurieren, dass sie mit den mitternachtsblauen und magentaroten Wänden mit ihren texturierten und vergoldeten Details harmonierten, und als das getan war, erstand ich als Mittelstück über dem Altar ein Gemälde, ein erlesenes Exemplar der religiösen Kunst des 15. Jahrhunderts.
Für mich war die Kapelle nicht nur ein Ort der Anbetung. Wasmich berührte, war ihre Geschichte, ihr Alter, die Jahrhunderte, die in der gewölbten Decke, der Goldfarbe und dem bunten Glas eingefangen waren. Einfach fantastisch. Mir gefiel die Kapelle als eine Art Gegengewicht zur Logik; manche Dinge lassen sich messen, andere nicht.
Zu Letzteren gehört die Tatsache, dass ich überlebt habe. Welchen Anteil daran hatte die Medizin, welchen der Glaube und welchen mein eigener Wille? Ich weiß die Antwort nicht, und ich widersetze mich den einfachen, bequemen Erklärungen, weil, ehrlich gesagt, wohl auch schieres Glück viel damit zu tun hatte. Oft ist Ich weiß nicht die zutreffendste und ehrlichste Antwort, die man geben kann.
Je näher in diesem Jahr 2001 der fünfte Jahrestag meiner Krebsdiagnose rückte und damit die Aussicht, offiziell für geheilt erklärt zu werden, umso mehr hatte ich wieder Anlass, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Und ich hatte einen weiteren Grund, die Tour ein drittes Mal gewinnen zu wollen. Das Radrennen war für mich immer auch eine Bestätigung, ein weiterer Akt des Überlebens. Mir erschien es nur richtig, die Möglichkeiten des Körpers auszuschöpfen, der mir zurückgegeben worden war. Unabhängig davon, was oder wem ich mein Überleben zu verdanken hatte, fühlte ich mich verpflichtet, etwas mit meinem Körper zu tun.
Und Radrennen fahren ist nun einmal mein Beruf. Allerdings überkam mich so langsam auch der Verdacht, dass es für mich das Einfachste war, weitaus einfacher, als mich zum Beispiel gegen eine Dopinguntersuchung zur Wehr zu setzen, eine Ehe zu führen oder den Unterschied zwischen Glauben und Wissenschaft auszuloten.
Zu Beginn des Frühjahrs besuchte ich Lourdes, aber nicht, um Kerzen anzuzünden oder in der Grotte zu baden, sondern um in den Bergen zu trainieren.
Einmal fuhr ich an einem Tag auf einer Strecke von 200 Kilometern über sieben Bergpässe. Wenn, was vorkam, ein Berg eingeschneitund nicht passierbar war, fuhr ich so weit wie möglich hoch, wendete, raste hinunter zum Beginn des Anstiegs, und fuhr dann nochmals hoch, nur um noch einen Anstieg in den Tag zu quetschen.
Dieses exzessive Trainieren war für mich eine willkommene Flucht vor der Frustration über die sich immer noch hinziehende Dopingermittlung. Zunächst hatten die französischen Behörden angekündigt, die Untersuchung vor der Tour abzuschließen, wozu es dann aber doch nicht kam. Der mit der Ermittlung betraute Staatsanwalt François Franchi hatte eine neue Serie von Tests angefordert – wofür, wollte oder konnte er nicht sagen. »Bislang haben wir noch keine Spuren von Epo gefunden«, erklärte er. »Wir haben nichts Konkretes oder Positives.« Sie versuchten ebenso verbissen wie vergeblich, etwas in meinem Urin zu finden.
»Was pinkelst du für einen Tropfen? Chardonnay?«, scherzte mein Freund Robin Williams. »Wird der besser, je älter er ist?«
Die beste Vergeltung war, so entschied ich, die Tour nochmals zu gewinnen. Und dieses Mal würde mein Sohn alt genug sein, um zumindest ein wenig davon zu verstehen, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiente. Ich hatte ihn gut trainiert.
Ich: »Wer wird gewinnen?«
Luke: »DADDY!«
Die diesjährige Tour wurde im nordfranzösischen Dünkirchen mit einem kurzen Prolog im Regen unmittelbar an der Seepromenade eröffnet. Luke war mit dabei, und er war hellauf begeistert. Er saß bei mir im Teambus, protzte mit allen Worten, die er kannte, und zeigte in einem fort auf Dinge wie Räder, Reifen, Laster und so weiter. Als ich mich für den Prolog aufwärmte, bot er mir hartnäckig einen Bissen von seinem Sandwich an, was ich aber höflich ablehnte – ein Sandwich ist nicht gerade das, was man vor einem Rennen essen sollte.
»Was ist Daddys Farbe?«, fragte ich ihn.
»Yo-yo«, krähte Luke.
Da er »yellow« noch nicht richtig aussprechen konnte, war
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