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Jede Sekunde zählt (German Edition)

Jede Sekunde zählt (German Edition)

Titel: Jede Sekunde zählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lance Armstrong , Sally Jenkins
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alles»yo-yo«, den ganzen Tag lang. Yo-yo-Bus, yo-yo-Rad, yo-yo-Laster... Sie wissen schon, was ich meine. Yo-yo, immer und immer wieder yo-yo.
    Ich ging mit einem Grinsen im Gesicht an den Start – das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich stieg auf den regennassen Straßen Dünkirchens sofort hart in die Pedale – und kam als Dritter ins Ziel. An diesem Abend trug Daddy nicht yo-yo. Darauf musste Luke noch warten – und zwar, wie sich zeigen sollte, länger, als wir alle erwartet hätten.
    Von Dünkirchen aus führte die Tour parallel zum Kanal durch Nordwestfrankreich. Jan Ullrich und ich taxierten uns von Anfang an. Einmal mehr war er der Fahrer, den es zu schlagen galt, der talentierteste und gefährlichste Herausforderer im gesamten Peloton. Ullrich, der topfit in das Rennen ging, war in weitaus besserer Form als im Vorjahr, mit vorspringenden Backenknochen und Muskeln, die sich unter seinem Renntrikot ausbeulten. »Es gilt, jetzt oder nie«, hatte Ullrich vor der Tour verkündet.
    Wir kamen nach Verdun, der Festungsstadt rund 300 Kilometer östlich von Paris, bei der im Ersten Weltkrieg weit über 600 000 Soldaten aus Frankreich und Deutschland ihr Leben verloren und ich 1993 meine erste Tour-Etappe gewonnen hatte. Dieses Mal stand hier ein Mannschaftszeitfahren auf dem Programm. Auf dem 67 Kilometer langen Kurs mussten wir gegen heftigen Wind und starken Regen ankämpfen, und nach ungefähr der Hälfte gerieten zwei unserer Postal-Fahrer, Christian Vande Velde und Roberto Heras, auf eine frisch gezogene Straßenmarkierung. Vande Veldes Rad rutschte unter ihm weg, er kollidierte mit Heras, und beide stürzten. Christian brach sich den Arm und musste aufgeben. Roberto hatte eine Woche lang gegen Schmerzen zu kämpfen.
    Tagelang fuhren wir durch nicht nachlassenden Regen. Mit jeder Etappe entfernten wir uns weiter von der Küste und näherten uns den Bergen, bis wir nach acht Etappen schließlich die ersten Ausläufer der Alpen erreichten.
    Wir erreichten die Alpen mit einem Rückstand, einem großen Rückstand. Ein bis dato unbekannter französischer Fahrer namens François Simon und ein talentierter junger Kasache namens Andrej Kiwilew hatten einen erfolgreichen Ausbruchsversuch gestartet, und nun trug Simon das Gelbe Trikot – mit einem gewaltigen Vorsprung von 35 Minuten. Passiert war das, weil wir zu konservativ gefahren waren. Als die beiden im Jura davongezogen waren, hatte sich niemand bereit gefunden, ihnen nachzusetzen – wir hatten es für wichtiger gehalten, unsere Kräfte so früh im Rennen noch so weit wie möglich zu schonen, und die anderen Teams hatten genauso gedacht. Das Ganze war wie ein Pokerspiel, bei dem man sehen will, wer blufft, und da noch niemand bereit war, seine Karten auf den Tisch zu legen, hatte Simon zusammen mit seiner Ausreißergruppe ohne nennenswerte Gegenwehr einen gewaltigen Vorsprung herausfahren können. Ich lag weit zurück auf dem 24. Platz, Ullrich auf dem 27.
    Uns standen einige lange und harte Verfolgungstage bevor, vor allem, was Kiwilew anging. Simon war kein Kletterer, und alle wussten, dass er in den Bergen zurückfallen würde. Aber der 27-jährige Kiwilew, der für Cofidis am Start war, lag mit 33:14 Minuten Vorsprung vor mir auf dem vierten Platz, und ich hatte es so im Gefühl, dass er sich da vorne halten würde. Ich hatte ihn bereits einige Zeit beobachtet, und was ich sah, war ein Radprofi, der sowohl die richtige Einstellung als auch die Fähigkeiten hatte, rasch an die Spitze vorzustoßen. Um ehrlich zu sein, ich wünschte mir, er wäre in unserem und nicht in einem anderen Team. Was ich damals natürlich noch nicht wissen konnte, war, dass Andrej niemals die Chance erhalten sollte, sein Potenzial auszuschöpfen: Zwei Jahre nach der Tour von 2001 stürzte er bei hoher Geschwindigkeit und zog sich tödliche Verletzungen zu. Seine Leistung bei dieser Tour sollte eine quälende Erinnerung daran bleiben, was aus ihm hätte werden können.
    Der Ausbruch der Gruppe um Simon warf Johans ausgeklügelten Rennplan für das Postal-Team über den Haufen. Wir musstenuns hinsetzen und eine neue Strategie entwickeln. Johan blieb gelassen. Wir müssten einfach härter fahren, sagte er, und würden eben ein paar Tage länger brauchen, bis wir das Gelbe Trikot erobert hätten. »Wir werden«, gab er als Devise aus, »bei jeder sich bietenden Gelegenheit angreifen.«
    Die erste Etappe in den Bergen sollte, sowohl psychisch wie auch physisch, wieder einmal

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