Jede Sekunde zählt (German Edition)
schaffen machen. Ich wollte sie nicht unnötig beunruhigen, wollte ihr nicht sagen: »Ach, ich fahr mal kurz wegen ein paar Bluttests runter in Ace’ Praxis.« Ich zog es vor, meine Sorgen für mich zu behalten. Nichts und niemand sonst konnte mich beruhigen – ich brauchte diese Zahlen. Also erfand ich eine Ausrede, was ich an diesem Nachmittag erledigen müsste, und machte mich auf den Weg.
Ich fuhr zu Ace’ Praxis, ließ mir Blut abzapfen, fuhr zurück nach Hause und bezog Stellung neben dem Telefon. Er hatte mir versprochen, anzurufen, sobald er die Resultate hatte. Das Einzige, was mich interessierte, war mein HCG-Wert, der entscheidende Tumormarker für Hodenkrebs. HCG ist ein Hormon, dasbei schwangeren Frauen völlig normal ist, aber im Blut eines jungen Mannes sollten sich nur Spuren davon finden. Falls mein HCG-Wert über zwei lag, konnte das nur eines bedeuten: Der Krebs war zurückgekehrt. Was den Krebs anging, zählten nur Zahlen. Ich wollte nur eins von Ace Alsup hören, und das war, dass mein Wert unter zwei lag.
Als ich Krebs hatte, schoss mein HCG-Wert in die Höhe. Eines Morgens rief College an und fragte, wie es mir gehe. »Die Zahlen sind gestiegen«, sagte ich. Mein HCG-Wert lag bei über 109 000. Der Krebs breitete sich aus und hatte mein Gehirn befallen. Meine Mutter hatte den ganzen Morgen hindurch nur geweint, ich dagegen fühlte mich eigenartig erleichtert. Damit ich aus dem Haus kam, ging College mit mir zum Mittagessen in ein Restaurant.
»Ich weiß nicht, warum sie ununterbrochen weint«, sagte ich. »Ich nehme es ganz gelassen. Wenigstens weiß ich jetzt alles. Ich habe die Zahlen. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.«
Ich saß alleine neben dem Telefon, wartete auf Ace’ Rückruf und fragte mich, was ich tun würde, wenn der Krebs wieder da sein sollte. Okay, sagte ich mir, du hast die Wahl: Du kannst das Handtuch werfen... oder wie der Teufel kämpfen und hoffen, ewig zu leben. Am Anfang, nach Ausbruch der Krankheit, hatten einige Ärzte meine Überlebenschancen auf 50 Prozent geschätzt, einige meinten 40 Prozent, und ein paar sagten 20 Prozent. Eines aber war gewiss: Noch die kleinste Chance war besser als null Prozent.
Das Telefon klingelte. Ich hob ab – es war Ace.
»Sag mir nur, ob er unter zwei liegt«, drängte ich. »Wenn ich das höre, lege ich auf, und das war’s dann.«
»Er liegt unter zwei«, antwortete er.
Ich dankte ihm und legte auf. Das war es. Aber es war nicht das Ende meiner Beklemmung.
Ich lebe mit der ständigen Angst, mir könnte die Zeit ausgehen. Immerzu muss ich alles jetzt machen – heiraten, Kinder zeugen, Rennen gewinnen, Geld verdienen, Motorrad fahren, von Klippen springen. Wer weiß schon, ob ich später noch mal die Gelegenheit dazu habe? Es ist ein zweischneidiges Geschenk, diese Artkonzentriertes Leben, und vielleicht widme ich es nicht immer den richtigen Dingen. Entweder mache ich etwas 150-prozentig, oder ich schlafe.
Wenn ich mich auf etwas konzentriere, nehme ich nichts mehr von dem wahr, was um mich herum passiert, ich höre und sehe nichts anderes. Ich verpflichtete einen jungen Australier namens Christian Knapp als Traininigsassistenten. Christian war eine Art Hansdampf in allen Gassen, ein Masseur und Fitnesstrainer, dessen Aufgabe es war, mich beim Workout zu unterstützen und mich auf langen Touren auf dem Motorrad als rollender Schutzschild gegen den Verkehr zu begleiten. Eines Nachmittags fuhren wir zusammen hinaus, ich auf dem Rad, er auf dem Motorrad. Wir waren insgesamt sieben Stunden unterwegs, mussten uns durch ein Gewitter kämpfen und waren gegen Ende des Tages ziemlich froh, als wir aus den Vorbergen endlich hinunter in ein grünes Tal kamen. Kaum waren wir unten, kam ein starker Wind auf, der uns direkt ins Gesicht blies.
»Mann, ich wette, dieser Gegenwind macht dir schwer zu schaffen«, rief Chris, der neben mir auf dem Motorrad fläzte. Ich sah ihn an.
»Welcher Gegenwind?«
Wir verbrachten diesen November, den letzten Monat von Kiks Schwangerschaft, ganz geruhsam in Austin. Die Geburt der Zwillinge wurde für die Zeit um den 1. Dezember herum erwartet. Doch dann, einen Tag vor Thanksgiving, ging Kik zu einer Routineuntersuchung und erwähnte gegenüber Dr. Uribe, sie habe sich an diesem Morgen etwas eigenartig gefühlt; er untersuchte sie kurz, dann sagte er: »Wo ist Ihr Mann heute?« Kik antwortete ihm, ich wolle heute zu einer Reihe von Geschäftsterminen abreisen.
»Nun, dann rufen Sie ihn besser
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