Jede Sekunde zählt (German Edition)
sind, freie Unternehmer, macht es doppelt schwer, ein Team aus einem Guss zu formen, weil jedes Jahr Leute gehen und neue Leute kommen. 2002 war da keine Ausnahme: Tyler Hamilton, der mir zu drei Tour-Siegen verholfen hatte, wurde uns von einem dänischen Rennstall als Teamkapitän ausgespannt. (Was nichts daran geändert hat, dass Tyler und ich auch weiterhin Freunde und gute Nachbarn sind.) Dennoch hoffe ich, dass alle unsere Fahrer, die heutigen und die zukünftigen, sich voll für das Team engagieren und bereit sein werden, auch noch das kleinste Detail richtig zu machen.
Zu Beginn jeder Saison starteten wir das Training mit 20 USPS-Fahrern aus allen Teilen der Welt. Wer später als einer der neun Fahrer bei der Tour de France mit an den Start gehen würde, hing von einer Reihe von Faktoren ab, unter anderem davon, wer zu dieser Jahreszeit gut in Form war und welche Rollen es zu übernehmen galt – wir brauchten ein paar Bergspezialisten, wir brauchten ein paar Jungs für die flachen Etappen, und wir brauchten Domestiken. Was vor allem aber zählte, war, wie viel zu opfern jemand bereit war. Wer keine »Teamdenke« hatte, blieb zu Hause. So einfach war das.
Wir nannten sie die »Dead Man’s Rules«, die Killerkriterien.
Wer gegen das Mannschaftsethos verstieß, wer die Regeln verletzte, wer die Linie überschritt, war draußen aus dem Team. Wer mit zur Tour kam, wusste, dass er keine Eigeninteressen verfolgen durfte. Es gab das Team, und sonst gab es nichts. Wenn jemand nicht so dachte, dann wollten wir ihn nicht haben, und wenn er zu den besten Fahrern der Welt gehörte. So jemand passte einfach nicht zu uns. Mit dieser Einstellung schufen wir uns außerhalb des Teams nicht gerade viele Freunde. Und dass ich selbst bei einigen Leuten den Ruf eines kaltblütigen Tyrannen hatte, lag daran, dass ich mich mit anderen Fahrern nicht viel unterhielt. Wenn jemand nicht im Postal-Team war, konnte ich ziemlich distanziert sein.
Wir wollten Fahrer, die mit 100 Prozent auf Angriff fuhren. Die Postal-Formel für die Vorbereitung zur Tour war simpel: Wie viel wiegt dein Körper, wie viel dein Fahrrad, und wie viel Kraft hast du in den Beinen? Sieh zu, dass du dein Gewicht verringerst und deine Kraft vergrößerst. Wir achteten auf unsere Ernährung, hielten beim Training feste Gewohnheiten ein und fuhren jeden Meter der Großen Schlaufe ab. (Man sollte meinen, jedes Team würde das tun, aber das ist nicht der Fall.) Wir tolerierten zwar keinerlei Nachlässigkeit – man will sich sicher sein, dass jeder ebenso hart arbeitet wie man selbst –, aber wir schauten auch darauf, dass wir unseren Spaß hatten. Humor ist, davon waren und sind wir überzeugt, ein wichtiger Bestandteil, wenn man als Team Rennen fährt, und er ist zudem ein exzellenter Schmerzkiller. Man muss die Schinderei ab und an mit einem Witz auflockern, und man muss einander aufziehen können, ohne dass jemand sich gleich auf den Schlips getreten fühlt.
Ein paar Wochen vor der Tour benannte Johan die neun Fahrer, die bei der Tour an der Startlinie stehen würden. Jeder Fahrer hatte eine spezielle Rolle und je nach Etappe eigene und vorab festgelegte Pflichten. Die Hauptaufgabe des Teams aber lautete, bis auf mich jeden davon abzuhalten, am Ende ganz oben auf dem Treppchen zu stehen.
Das Team:
George Hincapie ist mit einem überaus trockenen Humor gesegnet und der beständigste amerikanische Fahrer in unserem Team. Er ist absolut loyal, wie ein Bruder, und, was seine Verantwortung als Profi angeht, jeden einzelnen Tag hundertprozentig zuverlässig und gewissenhaft. Nichts scheint ihn je aus der Ruhe bringen oder ihm seine gute Laune verderben zu können – nicht einmal die härtesten Etappen der Tour.
»Finger in der Nase« ist für mich die treffendste Umschreibung von Georges Fahrstil. Man sieht Leute, die hart um Atem ringen, mit weit aufgerissenem Mund hecheln, durch die Ohren, die Augen und die Poren nach Luft lechzen. Bei George sieht man selbst bei einem hart gefahrenen Spurt noch nicht einmal die Nasenflügel beben, fast so, als bräuchte er nicht zu atmen, als würde er seine Nase nicht gebrauchen. Das ist George, Finger in der Nase.
Victor Peña aus Kolumbien, der Tscheche Pavel Padrnos und der Luxemburger Benoît Joachim waren die vollendeten Tour- Domestiken, Profiradrennfahrer, die selbst wichtige Radrennen gewinnen konnten und das auch taten, sich aber drei Wochen im Jahr bereit fanden, ihre Kraft und ihr Können in den Dienst des
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