Jede Sekunde zählt (German Edition)
denen ich mit George Hincapie praktisch aus ein und demselben Koffer gelebt habe. In der Saison und in den Trainingslagern sind wir häufig wochenlang zusammen unterwegs, schlafen in denselben engen Hotelzimmern, teilen jedes Leid, jeden Schmerz und jede Mahlzeit. Man lernt sich kennen und erfährt viel übereinander, darunter auch Dinge, die man lieber nicht wissen würde.
George zum Beispiel hat einen so starken Bartwuchs auf dem Kinn, dass er sich fast stündlich rasieren muss, wie ich in diesem August herausfand, als wir unterwegs in denselben Hotelzimmern nächtigten. Eines Morgens, George war gerade im Badezimmer, hörte ich einen Schrei.
» Verdammt. Es ist schon wieder passiert.«
Ich sprang auf und rannte in Richtung Bad. »Hey, was ist passiert?«
George kam ums Eck, glatt rasiert und strahlend.
»Ich bin schon wieder hübscher geworden«, grinste er.
Man kann zwar nicht immer sagen, was ein gutes Team ausmacht – aber man erkennt es, wenn man es sieht. Woran? Daran, dass die Leute im Team einander mögen. Manchmal sind wir zusammen mit zwei oder drei anderen Teams im selben Hotel untergebracht. Am Tisch des Postal-Teams geht es beim Essen immer hoch her, wir reißen Witze und bewerfen uns mit Brötchen, und auch nach dem Essen bleiben wir noch sitzen und genießen die Gesellschaft der anderen. Am anderen Tisch sitzt dann häufig genug ein Team voller Freischaffender, ein Team, in dem sich keiner besonders für den anderen engagiert. Beim Essen hängen ihre Köpfe über den Tellern, niemand spricht, und sobald sie fertigsind, verzieht sich jeder auf sein Zimmer. In einem Massenspurt bei der Zieleinfahrt ist ein Solofahrer ohne Verbündete oder Freunde ein müder und zur Niederlage verurteilter Fahrer.
Das U.S. Postal Service Team von 2002 war eines der besten Teams, das jemals bei einem Radrennen an den Start ging. Was war der Grund dafür, dass die Persönlichkeiten von neun sehr verschiedenen Männern auf ihren Fahrrädern zu einer einzigen, harmonischen Einheit verschmolzen? Die Antwort lautet: Reziprozität. Zu viele Menschen (und vor allem Bosse) verlangen Teamarbeit oder versuchen sie zu fördern, ohne den alles entscheidenden Aspekt dabei zu verstehen: Ein Team ist nichts weiter als eine, wenn auch kleine, Form der Gemeinschaft, und alle gemeinschaftlichen Unternehmungen, sei es die Anlage eines gemeinsamen Gartens, die Aufstellung einer Nachbarschaftswache oder eben ein Radrennen quer durch Frankreich, funktionieren nach demselben Prinzip: Wer etwas bekommen möchte, muss zuerst etwas geben. Er muss, mit anderen Worten, etwas investieren.
Wenn ich mich mit den Jungs in meinem Team nicht quer stellen will, muss ich ihnen das Gefühl geben, dass sie, wenn ich gewinne, auch etwas davon haben. Das tue ich unter anderem dadurch, dass ich jedes Jahr bei mehreren Rennen für sie an den Start gehe. Jedes Frühjahr leiste ich meinen Frondienst als Helfer und tue, was ich kann, damit meine Teamkollegen ihre Rennen gewinnen. Ich rackere mich als Domestike ab, ziehe sie in meinem Windschatten mit, schirme sie im Feld gegen andere Fahrer ab, hole ihnen Wasserflaschen. Und jedes Jahr freue ich mich wieder auf diesen Teil der Saison. Und wissen Sie auch, warum? Weil es ein herrliches Gefühl ist! Ich mache das nicht nur, damit sie sich später bei der Tour de France den Arsch für mich aufreißen. Ich mache das auch, weil es beglückend ist, weil es mir mehr gibt, als alleine zu fahren.
Das U.S. Postal Service Team des Jahres 2002 bestand aus gleich gesinnten Fahrern. Damit meine ich nicht, dass wir dieselben politischen Ansichten hatten oder dieselbe Musik hörten. Was unseinte, war schlicht ein gemeinsames Ethos. Dass dem so war, lag daran, dass Johan und ich die vorangegangenen fünf Jahre damit verbracht hatten, genau die Fahrer zu suchen, zu umwerben und zu verpflichten, mit denen wir arbeiten wollten. Das Radsportgeschäft wird von freischaffenden Subunternehmern dominiert. Ein Sport voller Fahrer, die taktieren, sich auf subtile Weise zurückhalten, die nicht für das Team, sondern für sich selbst fahren und nur ihren eigenen Vertrag im Kopf haben. Für solche Leute ist bei uns kein Platz. Wir hatten Fahrer im Team, die wir einer solchen Haltung verdächtigten – hatten, nicht haben, wohlgemerkt.
Im Laufe der Jahre sind Fahrer gekommen und wieder gegangen, weil sie einfach zu gut waren und von anderen mit der Aussicht, selbst ein Team zu führen, weggelockt wurden. Dass wir alle Selbstständige
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