Jede Sekunde zählt (German Edition)
die das Tempo nicht halten konnten. Bei einem Mannschaftszeitfahren wird die Zeit des gesamten Teams genommen, und diese Zeit wird jedem Fahrer als seine Einzelzeit berechnet. Sollten, mit anderen Worten, mehr als drei Postal-Fahrer zu langsam fahren, könnte mich das eventuell den Tour-Sieg kosten.
Das von einigen herausragenden Zeitfahrspezialisten geführte ONCE-Team galt als der traditionelle Favorit; bislang hatte noch kein amerikanisches Team eine besondere Stärke für Mannschaftszeitfahren an den Tag gelegt, und genau hier, so hieß es denn auch, liege eine Schwäche des Postal-Teams. Dieses Mal jedoch fühlten wir uns stark genug, die europäischen Größen herauszufordern. Neun Mann stark, alle in blauen, hautengen Postal-Renntrikots und auf gefährlich wirkenden schwarzen Karbon-Zeitfahrrädern von Trek, stürzten wir uns ins Gefecht. Mit durchschnittlich 48 km/h jagten wir die Straßen hinunter, an manchen Stellen des Kurses steigerten wir unser Tempo sogar auf 72,5 km/h. Jeder leistete Führungsarbeit, zog die anderen mit und ließ sich, wenn er müde wurde, nach hinten zurückfallen und den Nächsten in der Reihe nach vorne. Alles lief perfekt, keine Fehler, keine Katastrophen. Jeder hielt voll mit.
Wir rollten zusammen über die Ziellinie, alle neun von uns, und das in einer Zeit von 1:20:05. Am Ende des Tages lagen wir mit nur 16 Sekunden hinter ONCE auf dem zweiten Platz.
Bis auf einen Zwischenfall schafften wir es ohne Probleme durch die erste Woche: Knapp zwei Kilometer vor dem Ziel der siebten Etappe kollidierte ich mit Roberto. Wir wollten dem wilden Spurt ins Ziel entgehen und hielten uns inmitten des dicht gepackten Pelotons. Roberto, der an diesem Tag den Auftrag hatte, mir den Rücken freizuhalten, fuhr direkt hinter mir, als irgendjemand gegen sein Rad stieß. Roberto stürzte, und im Fallen geriet sein Lenker in mein Hinterrad. Mein Rad blockierte – und blieb einfach stehen.
Ich sprang vom Rad, schnappte Robertos Lenker und versuchte, ihn aus den Speichen meines Hinterrades herauszuziehen. Es dauerte eine Minute, bis mein Fahrrad wieder frei war und ich mit ein paar Tritten das Hinterrad wieder an seinen Platz gekickt hatte. Ich sprang aufs Rad, und Eki schob mich von hinten an, damit ich schneller wieder Tempo gewann. Der Sturz reichte, um mich vom dritten auf den achten Platz zurückfallen zu lassen. Aber es hätte schlimmer kommen können.
Und das tat es auch. Die neunte Etappe war ein Einzelzeitfahren von Lanester nach Lorient, eine Küstenstadt mit einem wunderschönen Hafen voller Fischerboote, der schon den Impressionisten als Motiv gedient hatte. Das Einzelzeitfahren ist ein »Rennen der Wahrheit« genanntes Tour-Ritual: jeder Fahrer allein auf sich gestellt gegen die Straße und gegen die Uhr, und damit basta. Die Disziplin belohnt gute, technisch starke Fahrer, die eine lange Solofahrt durchstehen und kalkulierte Risiken eingehen können, ohne dabei zu stürzen – und mir eilte der Ruf voraus, einer der besten Einzelzeitfahrer der Welt zu sein. Ich hatte sieben der letzten neun Einzelzeitfahren gewonnen.
Beim Aufwärmen vor Startbeginn foppte ich Jean-Marc Vandenberghe, einen unserer Mechaniker. Sein Vater arbeitete beim Straßenbau, und daraus hatte sich bei uns ein Running Gag entwickelt. Wenn ich mich vor einem Rennen gut fühlte, sagte ich zu Jean-Marc: »Du kannst schon mal deinen Dad anrufen. Ich werde hier nämlich gleich den Belag von der Straße radieren.«
Der Witz hatte inzwischen einen so langen Bart, dass Jean-Marc mich schon gar nicht mehr fragte, wie ich drauf war. Alles, was er entgegnete, war: »Soll ich meinen Dad anrufen?«
An diesem Morgen wartete ich nicht, bis er mich fragte. »Hey, Jean-Marc, ruf mal deinen Dad an, denn die Straße hier wird wie frisch umgepflügt aussehen, wenn ich mit ihr fertig bin.«
Aber an diesem Tag vollbrachte ich keine Wunder. Es gibt Tage, an denen macht man alles richtig, und dann gibt es Tage, an denen dir einfach nichts gelingt, und dies war so ein Tag. Zum einen lag mir der Kurs nicht sonderlich, zum anderen hatte ich Probleme mit meiner Technik. Ich fing mit einer falschen, zu großen Übersetzung an und konnte das nicht mehr korrigieren. Ich wusste, etwas lief falsch, aber ich kam nicht darauf, was genau es war.
Am Ende lag ich elf Sekunden hinter dem Tagessieger Santiago Botero, einem gleichfalls starken Einzelzeitfahrer, der 2002 eine große Saison fuhr. Der zweite Platz war zwar immer noch eine sehr gute
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