Jede Sekunde zählt (German Edition)
Roberto, die Augen auf seinen von Locken bedeckten Hinterkopf fixiert. Ein kurzer Blick über die Schulter auf dasunter uns über den ganzen Anstieg auseinander gerissene Peloton zeigte mir ein bunt getupftes Bild der Verwüstung.
Roberto schlug ein Tempo an, das sogar mir wehtat. Nach außen sah alles problemlos aus. Niemand sollte sehen, dass ich litt, nicht die Sportdirektoren, die mich möglicherweise auf den Fernsehschirmen in ihren Begleitwagen beobachteten, vor allem aber nicht Beloki, und so bemühte ich mich, möglichst gleichmäßig, ruhig und mit ausdruckslosem Gesicht zu fahren.
Irgendwann aber wurde es mir zu viel, und ich rief Roberto zu, »Tranquilo, tranquilo«, also »langsamer, langsamer«.
Zu meiner großen Erleichterung nahm Roberto das Tempo zurück. Leider versteckte ich die Tatsache, dass ich litt, so gut, dass selbst Johan im Begleitwagen überzeugt war, mir gehe es blendend. Er hielt den Augenblick für gekommen, richtig Zeit auf das Feld gutzumachen. Da er nicht wissen konnte, warum wir langsamer geworden waren, ging er auf Funk: »Roberto, venga, venga !« Roberto, schneller, schneller!
Gehorsam zog Roberto an, nur um gleich darauf von hinten meine Stimme zu hören: »Roberto, tranquilo !«
Als er wieder langsamer wurde, meldete sich Johan zurück: » Venga, venga, venga!«
Schließlich ging ich auf Funk: »Gottverdammt, Johan, sag ihm, er soll langsamer machen. Ich leide.« Johan gab die Nachricht weiter, und nun schlug Roberto ein Tempo an, das ich leichter halten konnte.
Beloki hing verbissen an meinem Hinterrad. Mir war klar, dass er auf die Chance spekulierte, uns den Tagessieg zu stehlen. Ich ließ ihn zwischen mich und Roberto fahren, und einige Minuten hielten wir ihn dort gefangen.
An seiner Haltung auf dem Rad konnte ich ablesen, dass er mehr litt als ich. Sein Mund stand weit offen, und seine Augen waren halb geschlossen.
Rund 200 Meter vor dem Ziel zog ich unvermittelt an Beloki vorbei. Ich ging aus dem Sattel und jagte mit aller Kraft auf dieZiellinie zu. Beloki hatte dem Angriff nichts mehr entgegenzusetzen.
Auf den letzten knapp 50 Metern zum Ziel nahm ich Beloki sieben Sekunden ab und holte mir damit die Führung im Gesamtklassement. Wir hatten das Gelbe Trikot zurückerobert. Mit Ausnahme von mir waren alle anderen eingebrochen, ein Erfolg, den ich dem Team zu verdanken hatte. Sie hatten mir sozusagen die Tür aufgestoßen und waren dann beiseite getreten, um mir den Vortritt zu lassen.
Nach dem Rennen knöpfte ich mir Johan vor. »Hey, Mann, was hast du dir dabei gedacht?«, sagte ich. »Ich sage Roberto, er soll langsamer machen, und du befiehlst ihm, einen Zahn zuzulegen.«
»Wie, hast du etwa gelitten?«, fragte er ungläubig.
»Ich war gottverdammt noch mal am Verrecken. «
»Im Fernsehen sah es so aus, als würdest du dich noch nicht einmal sonderlich anstrengen.«
»Ohne Scheiß?«
Irgendwann später kam Floyd in den Teambus und plumpste schwer auf eine Couch. Die Etappe hatte ihn körperlich restlos ausgezehrt.
»Leute, es tut mir Leid, wirklich«, meinte er zerknirscht. »Mann, hattest du den Rückwärtsgang eingelegt, oder was?«, sagte ich.
Meine Bemerkung brachte einen der Jungs auf die Idee, den hohen Signalton zu imitieren, den Traktoren beim Rückwärtsfahren von sich geben: »Piep, piep, piep, piep.«
Der gesamte Bus brach in brüllendes Gelächter aus.
Keiner von uns war enttäuscht von Floyd. Wir alle hatten irgendwann in seinen Schuhen gesteckt – und sosehr wir auch lachten, wir fühlten mit ihm; die erste Bergetappe der Tour ist für jeden Fahrer ein Initiationsritus. Floyd musste lernen, dass es in Ordnung war, Schmerzen zu haben, zu leiden und sich von einem Berg besiegen zu lassen.
Und er musste lernen, dass die Tour ihn ganz und gar vereinnahmen würde, dass er alle anderen Gedanken aus seinem Leben verbannen musste außer dem einen, wieder aufs Fahrrad zu steigen. Die Tour frisst dich mit Haut und Haar. Sie lässt dir noch nicht einmal die Energie, auch nur an etwas anderes zu denken. Deine ganze Hoffnung konzentriert sich darauf, jeden neuen Schmerz genau in dem Moment zu ertragen, in dem er dir in den Körper schießt, eine Herausforderung nach der anderen zu überstehen und dich, so gut es geht, der alltäglichen Erschöpfung zu erwehren.
Rookies haben es bei der Tour nie leicht, aber für Floyd war es besonders grausam, weil er einem Team angehörte, das auf Sieg fuhr, und das bedeutete, dass er jeden Tag vorne an der
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