Jede Sekunde zählt (German Edition)
Leistung. Weil ich jedoch als haushoher Favorit gegolten hatte, wog die Niederlage umso schwerer und brachte die Gerüchteküche im Peloton wieder einmal zum Sieden: Ich sei, hieß es, eben nicht mehr ganz der alte Lance Armstrong. Der Spanier Igor Gonzalez de Galdeano, der seit der vierten Etappe in Gelb fuhr, gab der Hoffnung Ausdruck, dass die Niederlage möglicherweise das Ende meiner Dominanz bei der Tour signalisierte. »Die Tour ist eine andere«, meinte er vor der Presse.
Niedergeschlagen – und insgeheim ziemlich beunruhigt – kehrte ich ins Hotel zurück. Wenn andere an mir zweifelten, dann tat ich das auch. Außerdem war ich wütend auf mich, weil ich vor Jean-Marc so übermütig geprahlt hatte.
Draußen vor dem Hotel wartete eine Familie mit einem kleinen Jungen, der Krebs hatte, auf mich. Der Vater des Jungen war ein Koch aus Lyon, der Hauptstadt der französischen Haute Cuisine, und sie waren die ganzen Strecke von Lyon nach Lorient mit dem Auto gefahren, um mit mir zu reden. Sie hatten sogar einefranzösische Ausgabe meines ersten Buchs, Tour des Lebens, mitgebracht. Im weichen Licht der untergehenden Sonne standen wir auf dem Rasen vor dem Hotel und unterhielten uns. Ohne dass sie es wussten, halfen sie mir damit, die Ereignisse des Tages in die rechte Perspektive zu rücken. Über Krebs zu reden ist für mich nämlich eine Art Medizin.
Viele Menschen haben falsche Vorstellungen darüber, warum ich mich mit anderen Krebspatienten und -überlebenden treffe. Ich tue das nicht nur, um anderen zu helfen. Ich tue das auch, um mir selbst zu helfen. Das Gespräch mit dem kleinen Jungen und seiner Familie nach dem Rennen an diesem Tag half mir wieder auf die Füße. Der Rest des Teams ging zum Abendessen, aber ich blieb draußen und sprach mit der französischen Familie, beziehungsweise – in Anbetracht meines gebrochenen Französisch – ich versuchte das und erfuhr so, was der kleine Junge durchgemacht hatte. Nachdem sein Immunsystem vollständig kollabiert war, hatte er zweimal fünf Wochen am Stück in einer hermetisch abgeschotteten, sterilen Umgebung verbringen müssen, war jetzt aber seit einem Jahr ohne Symptome. Unvorstellbar, was der Junge und seine Familie durchlitten haben mussten. Lass mich noch 50 Millionen Mal an Krebs erkranken, aber bitte verschone meine Kinder, dachte ich.
Ein Gefühl des Friedens erfüllte mich, Freude darüber, dass es dem Jungen gut ging – und mir auch. Ich legte einen Arm um ihn und ließ ihn da liegen. Um eine Verbindung mit ihm zu spüren, spielte ich mit ihm herum, tätschelte ihm den Rücken, zog ihn an den Ohren. Schließlich war es an der Zeit, uns zu verabschieden. Ich bedankte mich für den Besuch und ging nach drinnen, um mit dem Team zu Abend zu essen. Aber ich tat das mit einem klareren Sinn dafür, was richtig und wichtig ist im Leben, und mit dem Gefühl, dass es da immer eine Gemeinschaft gibt, der ich angehöre und die mir in harten Zeiten immer zur Seite stehen wird.
Am nächsten Tag hielt ich meine Klappe. Die Prahlerei vor dem Zeitfahren lastete auf mir, und ich war fest entschlossen,nichts mehr anzukündigen, das ich nicht einlösen konnte. »Von mir werdet ihr keine großen Sprüche mehr hören«, sagte ich zu George. »Warum nicht?«, gab George zurück. »Wir lieben deine Sprüche.«
Was George sagte, half mir, etwas zu verstehen: Das Letzte, was ein Team brauchen kann, sind Selbstzweifel. Niemand legt sich gerne für jemanden ins Zeug, der an sich selbst zweifelt; das wäre nur Energieverschwendung. Meine Teamkollegen rackerten sich all diese Stunden auf dem Rad ohne einen Dank ab, weil sie an den Sieg glaubten: Sie hatten mit mir in den Alpen trainiert und ihr Privatleben aufgegeben, weil wir einen Handel miteinander abgeschlossen hatten. Dieser gemeinsame Glaube gab uns Kraft, er trieb uns die Straßen hinunter und die Berge hinauf.
Sie wollten nicht mitten im Rennen hören, dass ich plötzlich an meinen Fähigkeiten zweifelte.
Bis vor uns die steilen Felsgipfel der Pyrenäen aufragten, hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen. »Wir werden angreifen und die verlorene Zeit wieder aufholen«, sagte ich.
Die elfte Etappe führte von Pau in das Dorf La Mongie, auf halbem Weg hinauf auf den berühmten Tourmalet. Ich wusste genau, was vor uns lag und wie schwer es werden würde. Aber ich wusste noch etwas – ich würde es nicht alleine tun müssen –, und dieses Wissen verlieh mir Kraft. Wir hatten vor, gemeinsam, alle neun, die
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