Jede Sekunde zählt (German Edition)
Berge hinaufzustürmen, bis die anderen Fahrer abfielen. »Ihr werdet sehen, die brechen ein«, versprach ich dem Team.
Der Tag führte uns über drei monströse Berge. Der erste war der Col d’Aubisque, ein steiler und tückischer, 18 Kilometer langer Anstieg hinauf auf 1705 Meter über dem Meer. Am Fuß des Col d’Aubisque ging ich auf Funk. »Lasst uns fahren«, sagte ich.
In den Bergen ist Teamwork besonders wichtig: Setzt sich einer meiner Teamkollegen an die Spitze und zieht mich mit, brauche ich bis zu 40 Prozent weniger Kraft, Kraft, die beim abschließenden Spurt ins Ziel entscheidend sein kann. Das Prinzip dahinter ist einfach: Meine Teamkollegen machen einer nach dem anderendie Führungsarbeit, bis sie nicht mehr können. Jeder dient mir als eine Art Startstufe, die mich den Berg ein Stück weiter hinauftreibt.
Ein Ausbruchsversuch von Laurent Jalabert kurz vor dem Aubisque löste in der Menge am Straßenrand wilden Jubel aus – bis wir ihm geschlossen nachsetzten. Angeführt von Ekimow und Hincapie, flogen wir wie ein riesiger Keil aus massivem Blau die Straße hinunter.
Doch dann ging es in den Anstieg hinein, und hier erfuhr Floyd Landis am eigenen Leib, warum die Tour de France den Ruf des härtesten Rennens der Welt genießt. Er ging in die Steigung hinein – und blieb praktisch stehen. Es war, als hätte sein Fahrrad einfach angehalten und beschlossen, den Rückwärtsgang einzulegen. Die Straße stieg so steil an, dass es ihm den Atem verschlug, und so sehr er sich auch abmühte, er konnte mit dem Rest des Teams einfach nicht mehr mithalten. Floyd fiel zurück. Floyd, der für uns immer wieder durch das dicht gedrängte Feld vorgeprescht war, wankte allein auf sich gestellt und mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht den Berg hinauf.
Wir hatten keine Wahl, wir mussten ohne ihn weiter. Mit George an der Spitze erreichten wir den Fuß des Tourmalet. Eigentlich ist George kein Kletterspezialist, aber an diesem Tag brauchten wir ihn, insbesondere nachdem Floyd zurückgefallen war. Das Problem war, dass George den Tourmalet wie sonst fast keinen zweiten Berg fürchtete, und ich wusste das.
»George«, sagte ich zu ihm, »zieh uns einfach die ersten vier oder fünf Kilometer, so viel du eben schaffst.« George sah mich skeptisch an. Er war nicht sicher, ob er den Berg überleben würde, geschweige denn, ob er anderen hinaufhelfen konnte. »Du kannst das, Mann«, sagte ich.
Ich lutschte an seinem Hinterrad, und er zog mich, bis er meinte, sein Herz müsse zerspringen. Er zog und litt und zog und litt. Der Anstieg auf den Tourmalet dauert rund eine Stunde. Gut 20 Minuten in den Anstieg hinein schuftete George immer nochan der Spitze, und durch das offene Trikot konnte man praktisch mitansehen, wie sein Herz unter dem Brustkorb raste. Mit – was man bei ihm sonst nie sah – weit aufgerissenem Mund rang er schwer nach Atem, bemüht, nicht an die Schmerzen zu denken.
Ich beschloss, ihn mit einem kleinen Scherz ein bisschen von der Quälerei abzulenken, und ging auf Funk. »Hey, Johan«, sagte ich. »George will wissen, ob du klären kannst, wann der Anstieg beginnt.«
»Lance, das ist nicht der Moment für Witze«, schnappte George.
Schließlich konnte er nicht mehr und fiel ab. Ich wollte noch etwas zu ihm sagen, aber ein Blick in sein Gesicht belehrte mich eines Besseren. George war am Ende, absolut – und das mit gutem Recht: Er hatte restlos alles gegeben.
Nach ihm setzten sich Chechu und Roberto an die Spitze – und rissen die Tour in den nächsten paar Minuten komplett auseinander. Sie legten ein so hohes Tempo vor, dass das Feld binnen Minuten immer weiter ausdünnte und schließlich das gesamte Peloton abfiel.
Wir stiegen höher und höher, auf Straßen ohne Leitplanken und unter einer sengenden Sonne. Nach und nach schrumpfte die Gruppe der Fahrer, die unser Tempo mithalten konnten, auf höchstens zehn, der Rest war abgefallen, und jetzt zogen wir auch an Jalabert vorbei.
Um den Schweiß aufzusaugen, trug Chechu seine Kappe mit dem Schild nach hinten. Mir wurde so heiß, dass ich meine abzog und sie in die Menge warf.
Nach dem völlig ausgepumpten Chechu übernahm Roberto die Führungsarbeit. Roberto stieg so hart in die Pedale, dass unsere Gruppe auf drei Fahrer zusammenschmolz: er selbst, ich und der Mann, der in der kommenden Woche als mein einziger ernsthafter Konkurrent übrig bleiben sollte: Joseba Beloki.
Ich hielt mich direkt hinter dem vor mir unermüdlich arbeitenden
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