Jede Sekunde zählt (German Edition)
zweiten Platz beim Prolog den Ruf eines Heißsporns eingehandelt und ins Bewusstsein der anderen Fahrer gefahren. Uns konnte das nur recht sein; wenn wir ihn,was wir häufig taten, zu einem Sprint vorschickten, setzte das Peloton ihm nach und verbrannte dabei viel Energie.
Floyd beschwerte sich nicht. Er hörte zu, er fuhr hart, er lernte viel von uns erfahreneren Fahrern, und er dachte keine Sekunde ans Aufhören. Aber eine Schwäche hatte er: seine Jugend. Die Tour ist kein Rennen für junge Fahrer, im Gegenteil, gerade Neulinge, die noch nicht ausreichend abgehärtet sind und denen die Kondition für ein dreiwöchiges Rennen fehlt, leiden am meisten.
Floyd war nervös. Er schlief nicht gut und wachte nachts immer wieder mit Herzrasen auf. Er machte sich Sorgen, doch nicht gut genug oder gar eine Belastung für das Team zu sein. Eines Morgens saßen wir alleine im Teambus, Floyd mit seinem Ziegenbart und weit aufgerissenen Augen, und unterhielten uns. »Floyd«, sagte ich zu ihm: »Floyd, ich brauche dich.«
»Ich weiß, ich weiß«, gab er zerstreut zurück.
»Hör auf!«, sagte ich. »Hör verdammt noch mal auf, dich verrückt zu machen! Du bist gut. Hör auf, dir Sorgen um das Team zu machen. Uns geht es gut.«
»Aber Lance, Mann, mein Herz rast wie verrückt...«
»Fang mir damit erst gar nicht an«, meinte ich. »Du hast Angst.
Was ist los? Hast du Angst um deinen Vertrag mit dem Team?« »Nein.«
»Ich denke doch. Du musst aufhören, dich deswegen verrückt zu machen. Das Einzige, worüber du dir Gedanken machen musst, ist die Frage, warum du hier bist.«
»Okay, okay.«
»Verarsch mich nicht«, sagte ich. »Ich will keine Ausreden mehr hören. Ich will nur eins von dir: Leistung. Verstanden?«
Floyd war nicht der einzige angespannte oder müde Fahrer im Team. Wir alle waren das. Wir wussten nicht mehr, welchen Tag wir hatten, manchmal wussten wir noch nicht einmal, welche Etappe wir gerade fuhren. Wir wachten morgens auf und fühlten uns, als wären wir von einem Lastwagen überfahren worden. Aber wir stiegen auf die Räder, und nach ungefähr einer Stundeging es uns dann schon wieder besser. Wenn man viel Rennerfahrung hat, erreicht man irgendwann eine Zone, überschreitet einen Punkt, ab dem einen nichts mehr sonst im Leben interessiert, ab dem es nur noch das Rennen gibt und man nicht einmal mehr die Energie für einen Telefonanruf aufbringt. Wir lebten in einer Art Unterwelt, wir setzten uns aufs Rad und kurbelten, und abends fielen wir in die Betten und schliefen, bis es wieder an der Zeit war, aufzustehen und sich der Tortur erneut zu stellen.
Zu dem Wind und dem ganzen Geschiebe und Gestoße im dicht gepackten Peloton kam hinzu, dass wir von kleinen mechanischen Problemen geplagt wurden. Dass ein paar von den Fahrern zu Reparaturen zum Begleitwagen zurückmussten, steigerte unsere Nervosität nur noch.
Eines Morgens beschloss ich, der Spannung mit einem kleinen Scherz die Spitze zu nehmen. Ich ging auf Funk und sagte: »Johan, ich muss zum Auto zurückkommen.«
»Was ist los?«, wollte Johan wissen.
»Ich hab da ein Problem. Ich will, dass du dir mal mein Rad anschaust.«
Es gab eine Pause, und ich konnte praktisch spüren, wie Johan am anderen Ende hektische Überlegungen anstellte. Um mich zum Begleitwagen zurückzubringen, musste er das Team neu organisieren.
»Johan, hörst du mich?«
Ohne mir zu antworten, fing er an, Anweisungen zu erteilen. »Okay. Floyd, Chechu, Eki und Pavel, ihr geht mit Lance«, sagte er. »Er kommt zurück zum Wagen. Wir müssen ihn zurückbringen.«
»Nein, Johan, das ist nicht nötig«, unterbrach ich ihn. »Ich will nur, dass du mir etwas bestätigst.«
»Was?«
»Ich muss wissen, ob mein Fahrrad eine Kette hat. Ich spüre nämlich nichts.«
Eine weitere Pause, ein Knistern, und dann war Johans Stimme wieder zu hören.
»Du Scheißkerl.«
Meine Teamkameraden brachen in Gelächter über mich aus.
»Nein, ganz im Ernst. Ist da eine Kette an meinem Rad?«
Die vierte Etappe war ein Mannschaftszeitfahren durch die Champagne von Épernay nach Château-Thierry. Die Etappe war ein Test unserer Fähigkeit, als Gruppe zu fahren. Zugleich war sie, da man mindestens sechs Fahrer zusammen ins Ziel bringen musste, wenn man keine Zeitstrafe kassieren wollte, eine Art Loyalitätstest. Sechs Fahrer zusammen ins Ziel bringen ist leichter gesagt als getan angesichts dessen, was bei hohen Geschwindigkeiten alles passieren konnte: platzende Reifen, Stürze, Fahrer,
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