Jede Sekunde zählt (German Edition)
von dem ich nur die Hälfte verstand. Aber am nächsten Tag waren die Schmerzen im Fuß verschwunden.
Vor allem aber hatte Jeff etwas, das noch besser war als jeder Laser, jede Wundauflage und jedes elektrische Massagegerät. Und das war, wie wir es nannten, »The Tape« . Dabei handelte es sich um ein spezielles, knallrosa Sportband, das aus Japan kam und über besondere Kräfte zu verfügen schien.
Einmal ging George mit Schmerzen im Lendenwirbelbereich zu Jeff. Jeff drehte ihn auf den Bauch und tapezierte seinen Rücken mit knallrosa Tape. ›Und das soll helfen?‹, dachte George, aber am nächsten Tag waren die Schmerzen verschwunden, einfach weg.
Wir schworen auf Jeffs rosa Pflasterband. Jeff rückte mit seinemTape allem zu Leibe. Ein Zerren im Knie? Jeff bepflasterte es. Einer der Fahrer hatte eine entzündete Sehne? »Mach dir keine Sorgen, kein Problem, wir werden es tapen.«
Jeden Morgen vor dem Rennen kam Jeff und klebte uns alle mit Pflaster voll, je nachdem, wo es gerade wehtat, Georges Rücken, Chechus Knie. Manchmal waren wir so sehr mit knallrosa Pflasterband bedeckt, dass wir wie Puppen aussahen, ein Haufen notdürftig geflickter Puppen.
Eines Tages ging Johan zu Jeff und sagte: »Das Tape ist viel zu auffällig. Die Leute sehen es und denken, wir wären völlig im Arsch.«
»Und was soll ich tun?«, wollte Jeff wissen.
»Wie wär’s mit etwas weniger Auffälligem?«, schlug Johan vor. »Gibt es das Zeug nicht auch in Grau?«
Aber weil das rosa Tape wirkte, behielten wir es. Und weil Jeff die Dinge richten konnte, richtig gut richten.
Weil wir so überzeugt waren, dass Jeff jedes kleine und große Wehwehchen heilen konnte, wartete am Ende des Tages unweigerlich eine Schlange von Fahrern vor seiner Tür. Manchmal hatten die Jungs eigentlich gar nichts, sie waren nur müde oder mental oder emotional ausgepowert. Peña wurde müde, Pavel wurde müde, sogar Roberto wurde müde. Kein Problem für Jeff. Während er sich um unsere lädierten Körper kümmerte, nahm er sich auch unserer lädierten Psyche an. »Weißt du, dass du heute viel besser aussiehst?«, konnte er zu einem sagen, während er einem den Körper mit knallrosa Pflasterband tapezierte.
Antwortete man dann mit einem ungläubigen »Wirklich?«, kam unweigerlich etwas in der Art von »Yeah Mann, ich kann es in deinem Gesicht sehen« zurück.
Bewertete man den wichtigsten Mann im Postal-Team anhand der Zahl der Leute, die sein Zimmer aufsuchten, dann war das Jeff. Ohne ihn, das wussten wir, würden wir es nie bis nach Paris schaffen.
Big Blue , der »Blaue Zug«, drückte voll aufs Tempo. Inzwischen hatten die anderen Fahrer regelrecht Angst vor uns, fürchteten sich vor unseren Antritten und machten Platz, wenn sie uns kommen sahen. Wenn wir wieder einmal an die Spitze des Pelotons fegten, baten sie uns inzwischen schon, doch wenigstens ein bisschen langsamer zu machen. Vom Ende des Pelotons hörten wir immer wieder Rufe wie: »Bitte, macht keinen Stress, bleibt einfach locker.« Wir machten Tempo, bis die anderen Fahrer über den Lenkern zusammensanken, mit tief hängenden Köpfen, die an welke Tulpen erinnerten.
Unser Ziel war nicht, sie zu quälen, wir wollten sie nur so sehr unter Druck setzen, dass sie kämpfen mussten, um mit uns mitzuhalten, und erst gar nicht auf den Gedanken verfielen, eine Attacke zu inszenieren. Wir fuhren wie aus einem Guss, Schultern und Hüften in einer Linie, keiner wankte kräftezehrend auf dem Rad hin und her, so als ob wir alle im Gleichtakt atmen und in die Pedale treten würden.
Am Tag nach La Mongie gewannen wir eine zweite Bergetappe, dieses Mal hinauf zum Plateau de Beille, eine Etappe mit fünf schweren Anstiegen, der letzte davon, hinauf zu einer Skistation, sogar hors de catégorie – also so brutal, dass es für ihn keine Kategorie mehr gab. Der Tag war so gnadenlos, dass gleich sechs Fahrer die Tour aufgaben. Ich dagegen fühlte mich großartig. Während die anderen Fahrer litten, fuhr ich im Windschatten von Big Blue .
Auf 16 Kilometern Strecke kletterten wir knapp 1400 Meter hinauf. Einmal mehr hängten Chechu und Roberto das gesamte Feld bis auf mich und Beloki ab – und dabei hatten wir noch nicht einmal voll aufgedreht. Nun bot sich uns die Chance, der diesjährigen Tour den Stempel unserer Überlegenheit aufzudrücken. Hinter Roberto, der an Belokis Hinterrad lutschte, trat ich an und zog blitzartig an beiden vorbei. Nachdem ich einen sicheren Vorsprung herausgefahren hatte,
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