Jede Sekunde zählt (German Edition)
checkte ich mit einem Blick über die Schulter die Lage. Bei der Zieleinfahrt riss ich im Triumph, imsicheren Wissen, dass wir mit diesem Tagessieg die Grundlage für den Gesamtsieg geschaffen hatten, beide Arme in die Höhe.
Den Rest des Rennens über begnügten wir uns damit, unsere Gegner auf Distanz zu halten und unseren Vorsprung jeden Tag ein wenig mehr auszubauen. Die 14. Etappe führte hinauf zu meinem alten Freund, dem Mont Ventoux, den wir schon aus der Ferne über der Provence thronen sahen. Am Ende dieses Tages hatten wir den Tour-Sieg praktisch schon in der Tasche, nachdem wir das steinige Ödland mit nahezu zwei Minuten Vorsprung vor Beloki hinaufgejagt waren und im Gesamtklassement nun mit insgesamt 4:21 Minuten führten.
Bergabwärts ist es normal, in die Bremsen zu steigen, nicht aber, wenn man einen Berg hinauffährt. An diesem Tag aber fuhren wir so stark, dass wir sogar beim Anstieg bremsen mussten. In manche Kehren gingen wir so schnell hinein, dass wir tatsächlich abbremsen mussten.
Hinterher gab Beloki das Rennen verloren. »Ich ziele auf den zweiten Platz ab«, sagte er. »Heute sind wir auf dem Mond gelandet und haben den Astronauten gesehen.«
Von diesem Tag an bis Paris konzentrierten wir uns vor allem darauf, sicher zu fahren, und schwelgten ansonsten im Vorgefühl unseres Triumphs. Das Team war unfehlbar, ein Fahrer so stark wie der andere. Pavel drückte in den flachen Etappen aufs Tempo, Roberto und Chechu glänzten wie immer in den Bergen. Floyd litt wie ein Hund, aber er hielt durch und sorgte wie gewohnt für viel Heiterkeit im Teambus. George und Eki agierten als Verteidiger, eskortierten mich wie ein Paar Bodyguards durch das Feld und zogen mich in ihrem Windschatten.
Obwohl das Rennen noch nicht vorüber war, ging ich zu Bill und sagte: »Deine wichtigste Aufgabe jetzt ist es, alle Jungs für das nächste Jahr wieder ins Team zu holen.« Chechu würde garantiert einige Angebote von anderen Teams erhalten, und ich wusste, dass er unter Stress stand, weil es ihm ebenso gefiel, im Team zu sein, wie es uns gefiel, ihn dabeizuhaben. Also nahm ich ihn mirvor und versicherte ihm, dass wir ihm bezahlen würden, was immer er brauchte. »Ich werde nirgendwohin gehen«, war alles, was er darauf antwortete.
Wir hatten jahrelang daran gearbeitet, das Team, den Mitarbeiterstab und die Mechanikercrew zu verbessern, und was wir dieses Mal erreicht hatten, war nahezu perfekt. Sie hatten mir das Leben fast schon leicht gemacht. Mein schlimmster Moment während dieser Tour de France war der Anstieg hinauf nach La Mongie gewesen, am Hinterrad meines eigenen Teamkameraden.
Der letzte wirkliche Test war das abschließende Einzelzeitfahren von Régnié-Durette nach Mâcon. Unter einer sengenden Sonne führte der leicht hügelige Kurs durch Weinberge und über von zahllosen Zuschauern gesäumte Straßen. Ich wollte das Zeitfahren um jeden Preis gewinnen – als Beweis, dass ich immer noch der stärkste Fahrer war, und um die Scharte der Niederlage bei dem Zeitfahren nach Lorient auszuwetzen. Dieses Mal fühlte ich mich gut, und alles lief glatt. Ich radierte den Asphalt von der Straße.
An diesem letzten Abend vor der Ankunft in Paris kam eine junge krebskranke Holländerin in unser Hotel. Ich lud sie ein, mit mir in den Speisesaal zu gehen. Wir setzten uns neben dem Team an einen Tisch und sprachen eine gute Dreiviertelstunde miteinander. Wie schon zuvor das Gespräch mit der Familie des kleinen Jungen aus Lyon erfüllte mich auch die Unterhaltung mit ihr mit einem Gefühl des Friedens und der Klarheit. Sie hatte viel durchgemacht: Nach einer ersten Behandlung hatte sie einen Rückfall erlitten und sich nochmals einer Behandlung unterziehen müssen. Wir sprachen eine Weile über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, wobei sie sich sehr für die Behandlungsmethoden in den Vereinigten Staaten interessierte.
»Was haben Sie getan?«, wollte sie von mir wissen.
»Ich wurde behandelt, ich habe wie der Teufel gekämpft, und ich habe gesiegt«, sagte ich.
Wir diskutierten über den Stand der Krebsmedizin in den USAund die Vorteile amerikanischer Krankenhäuser. Sie wollte wissen, was ich damals gegessen und wie viel ich trainiert hatte. Ich sagte ihr die Wahrheit: »Am Anfang aß ich einen Haufen Spinat, aber das Einzige, was ich am Ende bei mir behalten konnte, waren Apfelkrapfen.« Und ich erzählte ihr, dass ich, sooft es ging, versucht hatte, Rad zu fahren, bis ich eines Tages ohnmächtig
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