Jede Sekunde zählt (German Edition)
Spitze mitfahren musste. So überrascht und geschmeichelt Floyd auch gewesen sein mochte, gleich in seinem ersten Jahr im Postal-Rennstall bei der Tour mitfahren zu dürfen, so sehr ängstigte und setzte ihn das auch unter Druck. Er wusste ganz genau, dass wir unsere Fahrer sorgfältig auswählen mussten und nur Leute mitnehmen konnten, die dem Job gewachsen waren. Er wollte uns kein Klotz am Bein sein.
Ich versicherte Floyd, dass er einen hervorragenden Job machte: Seine Aufgabe war es, sich für den Rest von uns aufzuopfern, und genau das hatte er getan. Eine überzeugende Leistung bei jeder einzelnen Etappe konnte man nur von älteren und gereiften Fahrern erwarten.
Floyd war sprachlos. Er konnte nicht glauben, dass neun zu Tode erschöpfte und völlig gestresste Fahrer miteinander so nachsichtig umgingen. Genau das jedoch machte aus uns ein starkes Team bei jeder einzelnen Etappe. Wir trieben einander an und zogen uns gegenseitig auf. Manchmal übertrafen wir die Erwartungen, manchmal blieben wir hinter ihnen zurück, aber wir versuchten immer herauszufinden, ob wir noch mehr geben konnten. Und ebendarum geht es bei der Tour; dass ein Fahrer neue Fähigkeiten in sich entdeckt, von denen er bis dahin nicht wusste, dass er sie besitzt.
Später an diesem Abend wurden im Fernsehen die Höhepunkte der Etappe gezeigt. Ich rannte zu George hinüber, und gemeinsam sahen wir sie uns an, sahen mit an, wie der »Blaue Zug«, wie die Kommentatoren uns nannten, angeführt von George den Berg hochjagte. Fast schon ehrfürchtig verfolgten wir mit, wie stark unser Team im Fernsehen wirkte. Es war ein Spektakel.
»Mann, schau dir das an«, sagte ich. »Ich liebe diesen Anblick.«
Das Team waren nicht nur die Fahrer. Das Team waren auch die Mechaniker, Masseure, Köche, Betreuer, Ärzte und der für mich vielleicht wichtigste Mann im Team, unser Chiropraktiker.
Die Tour schlägt dir die unterschiedlichsten Wunden. Wir alle hatten unsere Blessuren. Steife Nacken, wunde Knie, überreizte Kniesehnen und entzündete Sehnen überhaupt gehören zum Alltag der Tour. Man stürzt oder fährt stundenlang in ein und derselben Haltung, und schon hat es dich erwischt. Du wachst morgens auf und hast es am Ellbogen oder am Knie.
Und dann die Schürfwunden. Ich rede hier nicht von normalen Schürfwunden, wie man sie bekommt, wenn man bei Tempo 20 vom Rad fällt, von einem aufgeschürften Knie oder etwas in der Art. Ich rede davon, was man bekommt, wenn man bei einer Abfahrt vom Rad fällt und mit 70 Stundenkilometern über den Asphalt rutscht. Ich rede davon, über den rauen Belag der nordfranzösischen Straßen zu schlittern und zu rollen und sich den gesamten Körper aufzuschürfen, Arme, Beine, Rücken, Bauch. Dort, wo die Haut – manchmal bis auf den Knochen – aufgeschürft wird, bleiben gemeine, schorfige Wunden zurück. Das tut sehr weh, und zwar tage- und wochenlang, und hindert einen obendrein am Schlafen. Es reicht schon, sich im Schlaf auf die Seite zu drehen, und die bloße Berührung eines Lakens reißt dich aus dem Schlaf und lässt dich mitten in der Nacht vor Schmerzen stöhnen. Ein Sturz mit üblen Schürfwunden kann einem Fahrer den ganzen Rest der Tour vermasseln.
Der Typ, der uns allabendlich wieder auf Vordermann brachte,war unser Chiropraktiker Jeff Spencer. Jeff gehörte dem Team seit meinem ersten Tour-Sieg 1999 an. Sein Vertrag war auf zehn Tage befristet, aber am dritten Tag des Rennens rief ich einen Offiziellen von U.S. Postal zu mir und sagte: »Wissen Sie was? Sehen Sie diesen Typ da drüben? Der Typ geht nirgendwohin. Den brauchen wir.«
Jeff war zu gleichen Teilen Hexer, Guru und Medizinmann. Er hatte die eigenartigsten Substanzen und Rituale und Behandlungen. Was das Übel auch sein mochte, Jeff hatte ein Mittel dagegen. Er tat Dinge, für die wir keine Erklärung hatten, die aber nichtsdestotrotz wirkten. Seine Methoden reichten von einfachen Dehnungsübungen und Massagen über Hightech-Laserbehandlungen bis hin zu höchst merkwürdigen Wundauflagen, Tinkturen und Bandagen. Hatte man eine Schürfwunde, packte er eine silbrige Auflage auf die Wunde und bestrahlte das Ganze mit einem Laser. George schwor, dass mit Jeffs Laser Schürfwunden doppelt so schnell abheilten.
Manchmal behandelte er auch Körperteile, an denen man gar nichts hatte. Angenommen, mein Fuß schmerzte. Dann konnte es sein, dass er mir den Nacken mit dem Laser bestrahlte und mir einen Vortrag über »Nervenverbindungen« hielt,
Weitere Kostenlose Bücher