Jede Sekunde zählt (German Edition)
eine Weile auf, mich zu rasieren. Ich stand morgens auf, blickte in den Spiegel und dachte, warum zum Teufel soll ich mich rasieren? Wen kümmert’s? Die Stoppeln wucherten, bis mein Kinn von einem löcherigen, ungleichmäßigen Bart bedeckt war und meine Freunde mich damit foppten, mich »Chewbacca« oder »Grizzly Adams« zu rufen.
»Was bezweckst du eigentlich damit?«, wollte College wissen. »Das ist nun mal alles, was ich habe«, gab ich zurück.
Bier und ein Bart waren mein Ersatz für echte Exzesse.
Aber mit der Zeit langweilte ich mich. Sosehr ich mich auch bemühen mag, Müßiggang ist einfach nicht meine Sache. Jederbraucht etwas, mit dem er seine Tage ausfüllen und seinen Geist beschäftigen und auf das er seine Energie verwenden kann. In meinem Fall trifft das ganz besonders zu. Mir reicht es nicht, meine Klinge stumpf werden zu lassen; ich muss sie abtragen, abhobeln, abschleifen. Wenn ich mich zu lange gehen lasse, mich zu lange der Trägheit hingebe und mich dann im Spiegel ansehe, überkommt es mich, ich schimpfe mein Spiegelbild einen »laschen Sack« und setze mich wieder aufs Fahrrad.
Aber ich kann nicht auf immer und ewig die Tour de France mitfahren, und irgendwann werde ich eine andere Betätigung finden müssen. Die Diplomatie wird es wohl eher nicht werden. Warum? Nun, der Joux-Plane mag mein schlimmster Tag im Sattel eines Fahrrads gewesen sein, aber vor die Wahl gestellt, würde ich mich lieber nochmals den Joux-Plane hinaufquälen, als öffentliche Reden zu halten.
Ob es mir gefällt oder nicht, eines Tages wird sich meine Karriere als Profisportler dem Ende zuneigen. Und was dann? Was soll ich tun, wenn meine Muskeln und Sehnen den Anweisungen meines Gehirns nicht mehr so willig Folge leisten, wenn nicht mehr wie früher ein Etappensieg auf den nächsten folgt, wenn ich immer seltener auf dem Treppchen stehe? Was, wenn ich einen Sturz erleide, von dem ich mich nicht mehr erhole? Dies alles gehört zu den Dingen, die mit darüber entscheiden könnten, wann ich die Radschuhe an den Nagel hänge.
Ich habe vor, mindestens bis 2004, vielleicht auch länger, Radrennen zu fahren, und natürlich will ich versuchen, den Rekord einzustellen und die Tour nach dem fünften auch ein sechstes Mal zu gewinnen. Ob ich das tatsächlich kann, ist eine andere Frage: Immerzu werde ich nach dem Rekord gefragt, aber ich bin abergläubisch und weiß zu viel über das Rennen, die Unfälle, die passieren können, und über die Unwägbarkeiten der körperlichen Leistungsfähigkeit, als dass ich ankündigen würde, ja, ich will den Rekord einstellen.
Die Großen der Tour werden Ihnen sagen, dass eine fünfteTour schwer und eine sechste unmöglich ist. In 100 Jahren hat niemand die Tour sechsmal gewonnen, und das, obwohl die Allerbesten sich daran versucht haben. Als ob es da eine unsichtbare Grenze gäbe. Induraín gewann von 1991 bis 1995 fünfmal hintereinander und unternahm 1996 einen vergeblichen Anlauf, die Tour ein sechstes Mal zu gewinnen, doch dann verweigerte ihm sein Körper bei einem schweren Anstieg hinauf nach Les Arcs den Dienst, und er musste am Ende dem Dänen Bjarne Riis den Vortritt lassen. 1964 gewann Jacques Anquetil seine fünfte Tour, nur um danach in der Versenkung zu verschwinden. Der große Eddy Merckx war 1975 auf dem Weg zu seinem sechsten Triumph, als ein durchgeknallter Fan aus der Menge der Schaulustigen heraus auf die Straße sprang und ihm mit voller Wucht eine Faust in den Magen rammte. Merckx litt noch zwei Tage später unter Schmerzen und Beschwerden und wurde schließlich bei einer Bergetappe vom späteren Tour-Sieger Bernard Thevenet abgehängt.
1985 hatte Bernard Hinault auf dem Weg zu seinem fünften Tour-Sieg einen schweren Sturz, als er bei einer Sprintetappe von einem seiner Teamkameraden vom Rad gerissen wurde und danach mit blutverschmiertem Gesicht ins Ziel kam. In dem Jahr schaffte Hinault es gerade noch, in Paris vor seinem Teamkollegen Greg LeMond zu gewinnen – der Fahrer, der ihn im nächsten Jahr stoppen und damit auch den sechsten Tour-Sieg vereiteln sollte.
Man muss sich damit abfinden, dass man eines Tages versagt oder vom Fahrrad fällt. Das Einzige, wogegen man sich bei der Tour auch mit noch so viel Vorbereitung nicht schützen kann, ist ein Sturz. So sei es denn. Ich werde einfach daliegen, mich, so gut es geht, wieder aufrappeln und dann an einen fernen Strand verziehen und sagen: »Mir geht’s gut. Bringt mir ’ne Tube Sonnencreme und ein
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