Jede Sekunde zählt (German Edition)
Ich hoffe nur, dass ich es erkenne, wenn es so weit ist, dass meine Freunde es erkennen und dass ich dann die Stärke habe, rechtzeitig den Schlussstrich zu ziehen.
Nein, ich bin nicht besessen von der Vorstellung, die Tour so und so oft zu gewinnen. Der einzige Rekord, der mir jemals wichtig war, ist der: Vor mir hat noch nie jemand, der Krebs hatte, die Tour de France gewonnen. Hätte ich nach den ganzen physischen, mentalen und emotionalen Torturen der Chemotherapie auch nur zwei Prozent meiner Fähigkeiten eingebüßt, hätte ich niemals wieder an der Spitze mitfahren können. Ich glaube nicht, dass irgendjemand, mich eingeschlossen, ein solch spektakuläres Comeback für möglich gehalten hätte. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass der Krebs mich lehren würde, mich radikal auf eine Sache zu konzentrieren und meine Prioritäten im Leben von Grund auf neu zu ordnen. Die Tour zu gewinnen war meine Weise, dem Krebs zu sagen: »Du hast mich nicht besiegt, und du wirst mich nicht besiegen.«
Darüber, wie lange ich Radrennen fahren werde, wird nicht ein Rekord entscheiden. Ich werde jedes Jahr aufs Neue entscheiden, ob ich weitermache, und was mich im Sattel hält, wird keine Zahl sein, sondern Spaß. Dass und wie ich fahre, gründete von Anfang an auf einer ganz einfachen Tatsache: Das Radfahren macht mir Spaß. Wäre es anders, wäre es mir schlicht zu anstrengend. Wie lange ich daran Spaß haben werde, auf Weltklasseniveau zu fahren? Diese Frage werde ich mir immer wieder neu stellen und neu beantworten müssen.
Als Sportler wird alles, was du tust, was du sagst und was du von dir preisgibst, registriert und aufgezeichnet. Alles wird bewertet, entweder von einer Uhr oder von einer Kamera. Alles wird aufgeschrieben oder auf Video festgehalten; die Daten sind da, für jedermann einsehbar und überprüfbar. Dafür aber, wie glücklich ich mich fühle, ob nun im Sattel oder nicht, gibt es keinMaß. Alles, was ich weiß, ist, dass für jede Minute, die ich schneller werde, weil mein Körper stärker wird, es Tage gibt, an denen ich 45 Sekunden an Motivation verliere, weil ich mehr und mehr erkenne, was ich als Mensch erreichen und was ich nicht erreichen kann – und was mich das kostet.
Mein Job ist es nicht, darüber zu spekulieren, welchen Platz ich in der Geschichte des Radsports einnehmen werde und ob man sich an mich erinnert oder mich vergessen wird, weil – ohne damit jetzt respektlos wirken zu wollen – die Frage, wer den Rekord mit den meisten Tour-Siegen hält, in zehn Jahren nicht mehr mein Problem sein wird.
Ich hoffe einfach, dass ich zufrieden bin, wenn ich aufhöre. Warum sollte das, was man zwischen 20 und 30 macht, der Höhepunkt eines ganzen Lebens sein? In Texas sieht man sie überall: Leute, die sich immer noch an ihrem einen großen Moment in der Highschool-Mannschaft aufgeilen, die damals Landesmeister wurde. Aber selbst bei Profisportlern macht der Sport nur einen Teil ihrer Persönlichkeit aus; ich zum Beispiel bin nicht nur Sportler, sondern auch Krebsaktivist und ein Vater, der seine Kinder zur Vorschule bringt.
Eine der gefährlichsten Fallen für prominente Athleten ist meiner Meinung nach, dass man sich an große Mengen an Adrenalin und Aufmerksamkeit gewöhnt, und das kann einem später große Probleme bereiten. Man wacht eines Morgens auf und stellt fest, dass man einen Kick braucht. Aber was den Ruhm angeht, kann mich nicht mehr viel überraschen, und was ich vor allem über den Ruhm gelernt habe, ist, dass er einem nicht gut tut. Wenn ich mit dem Radfahren aufhöre, werde ich aus der Öffentlichkeit verschwinden. Ich habe keinen Vertrag, der mich zwingt, im Fernsehen aufzutreten oder mit Journalisten zu sprechen. Ich freue mich darauf, mehr nachdenken und mehr zuhören zu können. Interviews und Redeauftritte interessieren mich wenig; für mich sind das komplizierte Angelegenheiten, und das Leben ist zu kurz, um es sich kompliziert zu machen.
Gerona liebe ich besonders, weil ich in meiner Straße nur einer von vielen Nachbarn bin. Es gibt da ein kleines Café, auf das ich aus meiner Wohnung hinuntersehen kann. Ich liebe es, mich in einen der bequemen Korbsessel sinken zu lassen, die vor dem Café auf dem Bürgersteig stehen, und in aller Ruhe einen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen.
Wenn ich mich zur Ruhe gesetzt habe, möchte ich die Kinder für drei Monate mit nach Europa nehmen, mit ihnen in Gerona leben, als Zuschauer zu den ganzen Radrennen gehen und
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