Jede Sekunde zählt (German Edition)
paar Margaritas.«
Ein Radrennfahrer muss immer damit rechnen, dass ein Sturz, eine Verletzung oder ein unglücklicher Zwischenfall seine Karriere beenden. Wie Eddy Merckx am eigenen Leib verspüren musste, kann man niemals die zwar abwegige, aber umso unheimlichereGefahr ausschließen, dass eines Tages ein verrückter Fanatiker aus der Menge herausspringt und auf einen losgeht. Ein großer Reiz der Tour besteht eben darin, dass sie eine Openairveranstaltung mit freiem Eintritt ist. Man muss durch kein Drehkreuz gehen, um das Rennen live mitzuverfolgen. Es reicht, einfach am Straßenrand zu warten, bis die Tour vorbeikommt. Die Masse der Schaulustigen gehört schon immer mit dazu und war schon mehr als einmal ein aktiver Bestandteil des Rennens; Zuschauer schieben Fahrer die Berge hoch, klopfen ihnen auf den Rücken, feuern sie an, reichen ihnen Essen und Getränke. Es gehört einfach mit zur Atmosphäre, dass Fans auf die Straße springen und brüllen, egal, ob sie das nun tun, weil sie wütend, begeistert oder schlicht besoffen sind. Das kommt bei jeder Tour so oft vor, dass ich gelernt habe, sie zu ignorieren. Ich versuche einfach nicht daran zu denken, dass unter denen, die vor mir auf die Straße springen, jemand sein könnte, der mehr will als nur seine Begeisterung hinausbrüllen.
Einmal, bei einem Bergzeitfahren in Chamrousse, tauchte wie aus dem Nichts ein Typ auf und rannte mit einer Zeitschrift und einem Stift in der Hand hinter mir her. »Kann ich ein Autogramm haben?«, rief er. »Kann ich ein Autogramm haben?«
Ich drehte mich zu ihm und sagte mit einem sehr sarkastischen Ton in der Stimme: »Willst du was wissen? Lass mich zu Ende bringen, was ich hier gerade mache, und dann komme ich zurück und schnappe mir dich.«
»Ich kann’s einfach nicht glauben«, meinte George prustend vor Lachen, als ich ihm nach dem Rennen die Story erzählte, »dass du ihm gesagt hast, du würdest zurückkommen und ihn dir später schnappen.«
Ich ziehe es vor, daran zu glauben, dass die Fans mir im Allgemeinen wohl gesinnt sind. Was mir weitaus mehr Sorgen bereitet, ist die Gefahr eines Sturzes. Daran, wie gefährlich unser Beruf sein kann, erinnerte uns einmal mehr der tödliche Sturz von Andrej Kiwilew. Andrej starb im Frühjahr 2003, als er auf der zweitenEtappe der Traditionsrundfahrt Paris–Nizza stürzte und sich einen Schädelbruch zuzog. Andrej war ein wundervoller, aggressiver Fahrer gewesen, der immer an der Spitze zu finden war, wenn es in die Berge ging. Ich hatte es geliebt, gegen ihn zu fahren. Wenn Andrej mit im Rennen war und es bergauf ging, dann wusstest du, dass er alles geben würde. Mein Gott, was für ein Angreifer er war. Und es waren immer die härtesten Rennen, in denen Andrej sein Bestes gab, wie er uns mit seinem vierten Platz im Gesamtklassement der Tour 2001 demonstriert hatte.
Andrej hinterließ eine Frau und ein sechs Monate altes Baby. Ich werde ihn immer als einen Gentleman und Freund und als Radrennfahrer in Erinnerung behalten, der seine Gegner dazu zwang, ihr Bestes zu geben.
Ich hoffe, meine Karriere auf dem Rad gesund und am Stück zu beenden und weise und meiner selbst bewusst genug zu sein, dass ich aufhöre, wenn meine Zeit gekommen ist. Gut möglich, dass ich früher aufhöre, als die Leute das erwarten. Wer weiß, vielleicht wache ich eines Morgens auf und beschließe, nichts Anstrengenderes mehr zu tun, als meinen Kids T-Ball beizubringen.
Ich will meine Karriere nicht in die Länge ziehen, wenn das bedeutet, darüber das Gesicht zu verlieren. Das ist keine schöne Vorstellung. Ich will mich nicht so lange am Lenker festhalten, bis ich hinter dem Peloton herhechle. Das ist nichts für mich; ich kann ein Rennen nicht am Ende fahren. Wenn du nicht vorne bist, an der Spitze, sondern hinten, dann schmerzt es am meisten, tief unten, dort, wo Muskeln auf Knochen treffen, und das ist ein anderer, ein hoffnungsloser Schmerz. Vorne an der Spitze schmerzt es auch, aber weil du dir Hoffnungen auf den Sieg machen kannst, ist der Schmerz nur halb so schlimm. Wenn du hinterherfährst, wartet wenig Lohn für die Schmerzen, dir bleibt nur die Ehre, es bis ins Ziel geschafft zu haben.
Ich frage mich oft, was ich tun würde, wenn jemand mir einmal richtig viel Zeit abnehmen würde, mich an einem Berg so stehen lassen würde, wie ich das mit anderen Fahrern schon gemachthabe. Wenn sie das erste Mal die Chance haben, es mir zu zeigen, oh Mann. Ich will draußen sein, bevor das passiert.
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