Jeden Tag ein Happy End
beschäftigt, dass sie nicht merkte, was mit mir los war.
Sie sah eine Weile stumm aus dem Fenster. Dann sagte sie: »Ich habe aber immer noch kein Brautkleid. Und auch keine Brautjungfer.« Sie schien tiefer in das dicke Polster ihres Sessels zu rutschen. »Wenn wir heimlich durchgebrannt wären, müssten wir uns um so etwas keine Gedanken machen.«
»Dann tun Sie das doch«, sagte ich und merkte, wie ich mich langsam wieder beruhigte.
»Dafür ist es wohl leider zu spät.«
Tatsächlich?
»Die Standesbeamtin ist da, und bezahlt ist sie ebenfalls«, sagte ich. »Das Geld kriegen Sie ja wohl sowieso nicht zurück.« Ruckartig drehte sie sich zu mir herum. Ich war nicht sicher, ob sie empört oder von meiner Idee fasziniert war.
Vierzig Minuten später bekam ich meine Antwort. Zusammenmit den fünfzig Gästen, die dem schlechten Wetter getrotzt hatten, sah ich Amy dabei zu, wie sie in Leggings und Ugg-Stiefeln den mit Blüten bestreuten Mittelgang hinunterschritt. Neben ihr Mike, der seinen Smoking gegen Jeans und ein kariertes Flanellhemd getauscht hatte. Richterin Louise Flanagan traute die beiden standesamtlich. Ohne Schnörkel, ohne große Reden. Als stünden die beiden bei ihr im Büro. Als sie Mike fragte, ob er versprach, seine Braut für immer zu lieben und zu ehren, wandte er sich an Amy, als wären sie ganz allein.
»Amy«, sagte er und nahm ihre Hand. »Du bist die Frau, die ich will. Nicht jemand in einem schicken weißen Kleid. Nicht jemand, der so tut, als wäre alles okay, wenn es ihm eigentlich schlecht geht. Seitdem ich dich das allererste Mal gesehen habe, gehört mein Herz dir. Und ich will es nie wieder zurück.«
Mit Tränen in den Augen antwortete sie: »Manchmal habe ich Angst, Mike. Manchmal mache ich mir zu viele Gedanken. Deine Liebe ist das Licht, das mir den Weg aus der Dunkelheit zeigt. Du bist der Grund dafür, dass ich jeden Tag aufs Neue versuche, diesen Weg zu gehen.«
Ich hatte schon so viele Ehegelübde gehört. Immer ging es um Blumen und Bäume, singende Vögelchen und den blauen Himmel. Amy war die Erste, die auch von den dunklen Seiten sprach. Von der Überwindung, die es kostete, jeden Tag an sich selbst zu arbeiten. Wer wäre nicht dankbar für jemanden, der einem dabei Mut machte und auf einen wartete? Jemanden, der gemeinsam mit einem hinunter in die Dunkelheit stieg, um wie Orpheus wieder daraus aufzusteigen?
Ich überlegte, ob ich dieser Jemand für Laurel hätte sein können. Die ehrliche Antwort lautete: Nein. Selbst als wir einander richtig nahstanden, hatte es immer einen Teil vonmir gegeben, der sich nie ganz hatte öffnen können, der Angst hatte, runtergezogen zu werden. Wohin genau, das wusste ich nicht. Es war eine Art Selbstschutz. Ohne den es mir allerdings noch schlimmer ergangen wäre, als sie mich sitzen ließ. Wenn das überhaupt möglich war.
Amy und Mike steckten einander die Ringe an. Ihrer blieb stecken, und Mike musste lachen. Sie half ihm, den Ring auf ihren Finger zu schieben. Plötzlich konnte ich sehen, warum die beiden zusammen waren. Sie waren nicht das perfekte Paar, sondern ergänzten einander. Sein Optimismus half gegen ihre Ängstlichkeit. Ihre Vorsicht zügelte seinen Übermut.
Die Standesbeamtin erklärte sie zu Mann und Frau. Mike wirbelte Amy durch die Luft, und nach dem Vorbild des berühmten grünen Ogers Shrek und dessen Braut küssten sich die beiden zu den Klängen von ›I’m a Believer‹.
Familie Russo hatte offenbar noch nie davon gehört, dass weniger manchmal auch mehr sein kann. Bei der anschließenden Hochzeitsparty gab es ein italienisches Zehn-Gänge-Menü, und es war offensichtlich Familientradition, dass ausnahmslos jeder der Anwesenden einen Toast ausbrachte.
Amys Vater war der Erste und fragte, ob er das Brautkleid jetzt trotzdem bezahlen müsste. Mikes Eltern zählten eine lange Liste von Verwandten auf, die es nicht geschafft hatten, zu dem Ereignis zu kommen (und von denen einige vermutlich schon seit ein paar Jährchen unter der Erde waren). Dann wurde das Mikro tatsächlich an jeden einzelnen Cousin, Nachbarn und Kellner weitergereicht. Das Ganze dauerte bereits drei Stunden, als Brody sich das Mikro schnappte.
»Liebe bedeutet, sich nie wieder den Rücken rasieren zumüssen«, legte er los. Er trug sein Jackett über Jeans und T-Shirt und wirkte wie bei einem Vorsprechen für eine Stand-up-Comedyshow. Auf irgendeinem Kabelkanal in Lettland. Fünfundzwanzig Minuten lang gab er einen schlechten Witz
Weitere Kostenlose Bücher