Jeden Tag ein Happy End
sie wieder alleine in Florida besuchen.«
»Haben die Palmen dich und dein Dreirad diesmal in Ruhe gelassen?«
»Das ist sooo lange her!«, schimpfte ich.
Meine Mutter küsste mich und musste mir danach ihren Lippenstift von der Wange wischen. Er war rot wie ein kandierter Apfel.
»Hast du uns vermisst?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
»Kein bisschen?«
Ich schüttelte den Kopf, so sehr ich konnte. Dann warf ich mich in ihre Arme.
Ich war dankbar, als das Flugzeug endlich – wenn auch unsanft – landete. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich meinen Eltern das letzte Mal gesagt hatte, dass ich sie lieb habe. Ich hatte es auf einmal ungewöhnlich eilig, das Delta-Terminal zu verlassen und es nachzuholen. Eine halbe Stunde später allerdings waren diese herzlichen Gefühle in der Hitze Floridas verdorrt. Das Handgepäck in der einen, die Laptoptasche in der anderen Hand tigerte ich im Abholbereich hin und her und suchte nach dem metallic-lavendelfarbenen Schlachtschiff, das meine Eltern als Auto bezeichneten. Ich hatte meine Mutter bereits zweimal auf dem Handy angerufen, war jedoch sofort bei der Mobilbox gelandet. Zwanzig Minuten später machte ich mir langsam ernsthafte Sorgen und rief noch einmal an.
»Gavin«, sagte meine Mutter fröhlich, »schön, dich zu hören.«
»Wo seid ihr?«, fragte ich und stellte mich schon einmal darauf ein, dass mir die Antwort nicht gefallen würde.
»Wir sind im Auto, ich stell dich mal laut. Hörst du uns?«
»Ja, ich höre euch. Wo seid ihr?«
»Gavin, kannst du uns hören?«, fragte sie erneut.
»WO SEID IHR?«
»Du hast auf stumm geschaltet«, sagte mein Vater.
»Bestimmt nicht«, sagte meine Mutter. »Ich weiß doch gar nicht, wie man das macht.«
Ich legte auf und rief sie noch einmal an.
Es klingelte mehrere Male, bis meine Mutter endlich dran war. Laute Geräusche waren zu hören, als würde sie mit dem Handy erst einmal über jede einzelne Oberfläche im Auto kratzen.
»Wieso rufst du an?«, ließ sich meine Mutter schließlich vernehmen. »Hast du dein Flugzeug verpasst?«
»Mein Flugzeug ist vor einer Stunde gelandet«, sagte ich mit dem typischen nörgelnden Ton eines Heranwachsenden, der jahrelang am Straßenrand auf seine Eltern hatte warten müssen. »Seid ihr wenigstens schon in der Nähe vom Flughafen?«
»Du solltest erst um zwei ankommen«, mischte sich mein Vater ein.
»Ich habe dir doch gesagt, er kommt um zwölf«, belehrte ihn meine Mutter.
»Das hast du überhaupt nicht gesagt«, erwiderte mein Vater.
»Dad«, sagte ich, so freundlich, wie es mir eben möglich war, während mir der Schweiß hinunterlief, »ich habe dich extra heute Morgen angerufen, um dich daran zu erinnern.« Das hätte ich lieber anders formulieren sollen. Mit seinen siebzig Jahren reagierte mein Vater sehr sensibel auf das Thema Vergesslichkeit.
»Ich muss an nichts erinnert werden«, fuhr er mich an.
Ich würde ihn nicht von seinem Irrtum überzeugen können, und ich wusste, das sollte ich auch gar nicht wollen. Ich schwor innerlich, ein besserer Mensch zu werden, aber laut sagte ich: »Wenn ich dich nicht daran erinnern muss, wieso seid ihr dann nicht hier?«
»Weil du mir die falsche Zeit genannt hast!«
»Ich habe gesagt, um zwölf!«
»DAS HAST DU EBEN NICHT!«
So war das alles nicht geplant. Ich würde ab jetzt liebevoll und präzise sein, und sie würden dann … sachlich sein.
»Hast du Gary schon gratuliert?«, wechselte meine Mutter das Thema. Ich hatte keine Ahnung, wozu ich ihm gratulierensollte. »Gary und Leslie haben siebenmonatiges Jubiläum.«
»Wer feiert denn sein siebenmonatiges Jubiläum?«, fragte ich.
»Menschen in Beziehungen«, antwortete meine Mutter spitz.
»Gary hat doch jedes Jahr eine andere Freundin«, murrte mein Vater. »Singles haben es wirklich gut, die müssen sich nicht mit Beziehungen abquälen.«
»Womit musstest du dich denn bitte schön abquälen?«, wollte meine Mutter daraufhin wissen.
Sofort zählte er eine Reihe von Dingen auf. Dabei ging er anscheinend chronologisch vor, denn er fing mit dem Sitzplan bei ihrer Hochzeitsfeier an.
Während die beiden ihre Vergehen und Verbrechen des letzten Jahrhunderts durchgingen, saß ich am Straßenrand und wartete. Seit zwei Tagen war das der erste Moment, der einem Zustand von Ruhe und Entspannung ähnelte. Den Großteil des Fluges hatte ich mit meiner Kolumne über Mike und Amy verbracht, da die Arbeit daran am Sonntag eindeutig zu kurz gekommen war
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