Jeden Tag ein Happy End
war schon so weit, Renée um eine Verlängerung meiner Deadline anzuflehen, sie war jedoch bereits gegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Dabei arbeitete sie oft bis spät in die Nacht. Einige unserer besten Gespräche hatten weit nach Mitternacht stattgefunden. Mit müden Augen hatte sie mir von früher erzählt, als die Geschichten (und manchmal auch der ein oder andere windige Reporter) noch per Rohrpost im Druckraum landeten, wo die Drucker (damals übrigens noch gewerkschaftlich organisiert) die Artikel dann Wort für Wort im Bleisatz setzten.
Renée war also nicht mehr da. Auch kein anderer aus meiner Abteilung. Ungewöhnlich, aber es war ja auch eine ungewöhnliche Woche gewesen. Eine ungewöhnlich angespannte auf jeden Fall. Die Frist für die Abfindungsentscheidungen war mittlerweile verstrichen. Die, die sich dafür entschieden hatten, wurden vom Rest der Belegschaft ausgelacht und gleichzeitig beneidet. Wir anderen hattenbeschlossen zu bleiben, um noch ein bisschen Reise nach Jerusalem zu spielen. Nur dass hier nicht nur die Stühle weniger wurden, sondern auch Computer, Dienstausweise und Gehaltsschecks. Man lief auf Zehenspitzen durch die Gegend und wartete ängstlich darauf, dass die Musik verstummte und man sich auf einen der freien Stühle werfen musste. Man wollte bloß keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, abends verschwanden immer alle so schnell und unauffällig wie möglich nach Hause.
Im Takt von fünfzehn Minuten erloschen die Lampen im Büro, und ich musste aufstehen und ein paar Hampelmänner machen, damit mir die Bewegungs- und Wärmesensoren glaubten, dass ich tatsächlich eine menschliche Lebensform war und eine gewisse Beleuchtung am Arbeitsplatz benötigte.
Im übertragenen Sinne tappte ich natürlich weiter im Dunkeln. Ich wusste nicht, wann die Entlassungen anfangen würden. Ob es überhaupt Entlassungen geben würde. Vielleicht hatte Renée recht, und es war wirklich nur eine Abschreckungstaktik. Falls es das war, funktionierte sie wirklich gut. Ohne die Angst um meinen Job hätte ich nie die alleinige Verantwortung für einen Blog übernommen.
Ich zählte zum x-ten Mal meine Wörter. Die Geschichte sollte tausend Wörter haben, ich bekam aber nur siebenhundert zusammen. Ich musste diesen Artikel endlich fertig schreiben und zu der Verlobungsparty fahren. Das Licht ging schon wieder aus, und dieses Mal schien den Sensoren meine kleine Aerobic-Einlage nicht zu genügen. Also rannte ich auf dem Gang auf und ab und wedelte mit den Armen in der Luft. Vor einem der Büros blieb ich wie angewurzelt stehen. Renées Computer war noch an, und ihre Jacke hing über dem Stuhl. Ihre Handtasche hing auch noch da.
»Was machst du denn hier?«, hörte ich Renée. Sehen konnte ich sie in der Dunkelheit nicht.
Ich wollte gerade beteuern, dass ich ihr nicht hinterherspionierte, da ging das Licht wieder an. Bei ihrem Anblick fuhr ich zusammen.
Es war nicht so sehr das Blut an sich, was mich so schockierte, als die ungeheure Menge davon. Renée hielt sich mehrere blutgetränkte Taschentücher vor die Nase.
»Was ist denn passiert?«, fragte ich und rannte zu meinem Schreibtisch, um noch mehr Taschentücher zu holen.
»Ich blute«, knurrte sie. Und weinte. »Ich habe ab und zu Nasenbluten, keine große Sache.«
Ich hatte Renée noch nie weinen sehen. Das war fast noch verstörender als das viele Blut. Ich reichte ihr die Packung Taschentücher. In dem Moment fiel mir ein, dass ich irgendwo gelesen hatte, dass Nasenbluten ein Anzeichen für Leukämie sein kann.
Hatte Renée etwa Krebs?
»Die haben mich rausgeschmissen«, sagte sie rau und ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen. »Diese Arschlöcher haben mich einfach rausgeschmissen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste ja nicht mal, was ich denken sollte. Wir wurden seit Wochen davor gewarnt, aber ich war immer noch nicht darauf vorbereitet. Selbst wenn ich mich vorbereitet gefühlt hätte, ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass sie Renée entlassen würden.
»Heidi Takahashi hat mich zu sich ins Büro bestellt.« Renée atmete schwer. Die Worte kamen abgehackt heraus, unterbrochen von Schniefen und Schluchzen. »Erst mal hat sie sich als Redaktionsleiterin vorgestellt, als wenn ich nicht wüsste, wer sie ist. Als wenn ich nicht schon hier gearbeitet hätte, als sie noch in die Windeln gemacht hat.«
In meinem Kopf drehte sich alles. Wenn sie sogar auf Renée verzichten konnten, war ich auf jeden Fall auch bald
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