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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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drüben herkommen und sie ihm wegnehmen könnte. Bevor er ihr das Kleid ausziehen kann. Aber sie kennt ihn ja gar nicht, hat sie selbst gesagt. Sie wird jetzt immer dableiben, so wunderschön dasitzen und ihn anlächeln und mit ihm sprechen. Sein Körper entwickelt ein eigenes Leben, und er versteht nichts. Obwohl doch alles klar ist.
    »Ich habe Angst.«
    »Wovor?«
    »Weiß nicht.«
    »Komm, sag es mir.«
    »Vor dem Mann da drüben.«
    »Das ist doch lächerlich.«
    »Und wenn er kommt und dich mir wegnimmt?«
    »Das kann er nicht.«
    »Gut, dass wir wenigstens das geklärt haben.«
    »Ja.«
    Dora sieht Tränen in seinen Augen und sie lächelt, denn das Leben ist wunderbar. Luka. Das war der Name! Und alles hat einen Sinn. Sie hat gewartet und er ist gekommen, ein richtiger Mann, kein neunjähriger Junge, der noch auf seine Muskeln warten muss, nein, er sieht zum Nicht-Loslassen aus, sodass ihre Hände feucht werden, und jetzt ist alles in Ordnung, und das Leben kann anfangen. Sie spürt schon seinen Mund auf ihrer Haut, und Tausende von wild schlagenden Pelikanflügeln – sie hat neulich eine Dokumentation im Fernsehen gesehen – erobern ihren Bauch, und alles ist klar, und es ist gut, dass sie Nein zu André gesagt hat, »Non«, hat sie zu ihm gesagt, und er hat gemeint, es eile doch nicht und er habe Zeit. Und jetzt ist alles vorbei, das Warten ist vorbei, keine Geheimnisse mehr, und alles fügt sich zusammen, in einigen Monaten ist die Premiere, und Luka ist hier und sieht so verdammt gut aus, und das Leben ist aufregend. Und es ist schon so lange her, und es ist so und gleichzeitig nicht so, und es war ein anderes Leben und es gibt kein anderes Leben und das ist so unvorstellbar und Luka ist hier. Und sie ist nicht mehr feucht: Durchflutet ist sie.
    »Lass uns hier verschwinden.«

11
    Dora macht die Tür auf, und Luka betritt ihre Wohnung. Er macht ein paar Schritte, und sie schließt ab. Er dreht sich um. Dora zieht ihren Mantel aus, hängt ihn auf, aber er fällt vom Haken herunter, und sie lässt ihn auf dem Boden liegen. Ihre Augen sind unfähig, etwas anderes anzusehen als einander. Dora macht einen Schritt auf ihn zu. Luka konzentriert sich auf sein Atmen. Er zählt. Sie legt die Hände auf seine Wangen, und ihr Gesicht ist so nahe, dass Luka sie kaum sehen kann.
    »Atme«, hört er und gehorcht. »Atme«, hört er und fühlt sich plötzlich, als würde er fliegen. Wie eine Möwe, die in der Hitze schwebt und über dem Meer gleitet, ohne die Flügel zu bewegen, von der Luft selbst getragen, selbstsicher und furchtlos.
    Und alles, was geschieht, geschieht so natürlich und selbstverständlich, auch wenn sich die Zähne im ersten Moment berühren und die Nasen gegeneinander drücken, nach ihrem Platz suchend. Und auch wenn sie lachen müssen, weil ihre Arme sich verknoten und die Hände die Haut unter den vielen Kleidungsstücken – es ist November! – nicht gleich finden können und sie sich nicht sicher sind, wo sie gerade sind und was genau unter ihnen liegt, ist das eine unbezahlbare, unbuchbare Reise wie bei Jules Verne, von der niemand, der bei gesundem Verstand ist, je zurückkehren möchte.
    Es ist ziemlich dunkel in der Wohnung. Das einzige Licht kommt von der stark beleuchteten, da stark befahrenen Straße. Aber entweder haben Dora und Luka Katzenaugen oder aber sie sind zwei Blinde, die vor Jahrzehnten gelernt haben, sich auf andere Sinnesorgane zu verlassen.
    Und ihre Lippen sind unermüdlich. Ihre Körper sind überall. Sie sind unzertrennlich. Und der gelegentliche Schmerz erzeugt mehr Lust auf mehr Haut. Druckstellen und blaue Flecken werden wie Auszeichnungen herbeigesehnt. Mit Stolz herumgetragen. Und alles ist neu und noch nie erlebt, und dennoch fühlt sich alles so richtig an. Oder eben deshalb. Dora stöhnt kurz und tief. Luka schließt sie noch fester in seine Arme. Er hält sie wie einen Rettungsring.
    »Was ist?« Sie könnte mehr Luft vertragen, das ist hörbar.
    »Jetzt sind wir erwachsen.«
    »Das kann man wohl sagen.«
    »Und ich …«
    … liebe dich nur dich immer dich mein ganzes leben lang du bist meine luft mein herzschlag du bist in mir unendlich das meer das ich sehe bist du die fische die ich fange hast du in mein netz gelockt du bist mein tag und meine nacht und der asphalt unter meinen schuhen und die krawatte um meinen hals und die haut an meinem körper und die knochen unter meiner haut und mein boot und mein frühstück und mein wein und meine freunde und der

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