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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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muss er sie einfach alleine ziehen lassen, ihr einen Kuss geben, sie vorläufig das letzte Mal umarmen, noch einmal ihre Locken berühren und sehen, wie sie durch die Wohnungstür verschwindet, oder im Gebäude des Theaters, wenn er sie bis dahin begleitet. Und dann kommt sein Leben fast zum Stillstand. Es bleiben ihm nur die ungezählten Blicke auf die Uhr, die immer so tut, als wäre sie stehen geblieben.
    Er könnte die Zeit nutzen und zum Beispiel seinen Vater anrufen, oder Ana. Ihnen sagen, was passiert ist. Er will aber nicht. Vor allem will er nicht darüber nachdenken, warum er es nicht tut. Deswegen schaut er lieber auf die Uhr, die schon wieder einmal sicher stehen geblieben ist.
    Dann aber, in diesen überflüssigen Stunden des Alleinseins, entdeckt er eines Tages jemanden, der ihn die Wartezeit vergessen lässt. Pablo Neruda. Luka hat noch nie von dem Dichter gehört, findet ihn aber in Doras Bücherregal. Die Verse des Kapitäns und Hundert Liebessonette. Luka hatte nie etwas für Poesie übrig. Nie ein Verständnis dafür aufbringen können. Aber diese Gedichte treffen ihn wie jugo, der regnerische Südwind daheim in Kroatien, der einem das Atmen schwer werden lässt. Und dennoch kann man sich ihm nicht entziehen. Immer wieder dreht man den Kopf dem Wind entgegen, um von ihm berührt und umfasst zu werden. Nimm mir das Brot weg, wenn du/es willst, nimm mir die Luft weg, /aber lass mir dein Lachen . So einfach kann Lyrik sein. Das hat er nicht gewusst. Meine Liebe, / wir haben uns gefunden voller Durst, und wir haben uns getrunken, alles Wasser und das Blut, wir haben uns gefunden voll Hunger/und haben uns gebissen, / wie das Feuer beißt, / Wunden uns hinterlassend . So verständlich und klar. Doch wenn du/jeden Tag, jede Stunde empfindest, dass du für mich bestimmt bist, / mit unversiegbarer Süße, / wenn jeden Tag/eine Blüte aufsprießt zu deinen Lippen, um mich zu suchen, ach, meine Liebe, ach, Meine, so wiederholt sich in mir all dies Feuer, und nichts erlischt in mir, nichts ist vergessen, und meine Liebe nährt sich von deiner Liebe, Geliebte, und solange du lebst, wird sie in deinen Armen sein, ohne die meinen zu verlassen . Luka ist sich dessen eine Million Prozent sicher: Neruda muss sie, Luka und Dora, gekannt und nur für sie diese Verse geschrieben haben. Er will Spanisch lernen. Er muss diese Worte in Nerudas Sprache lesen können. Er kann es kaum erwarten, dass Dora nach Hause kommt, dann werden sie sich die Gedichte gegenseitig vorlesen. Wie ein endloses Gespräch.
    Luka übt mit Dora ihren Text.
    Und Dora lacht Tränen.
    »Du kannst das nicht, du kannst kein Französisch!« Sie küsst seinen Mund ab, jede kleine Lachfalte und jede Ecke.
    »Natürlich kann ich das, hör mal!« Und dann produziert er eine Reihe von Lauten, die nichts bedeuten und nie etwas bedeuten werden, er singt fast in seinem Bemühen, sich französisch anzuhören. Und Dora lacht Tränen.
    »Das war doch richtig, oder?«
    Dora sieht ihn nur verliebt an und streichelt sein Gesicht.
    »Übrigens muss ich gar nicht Französisch sprechen können, ich muss nur deinen Worten folgen, um dir ein Stichwort zu geben, solltest du eins brauchen.« Er fixiert den unverständlichen Text vor sich, und eine lang gezogene Falte entsteht zwischen seinen Augenbrauen.
    »Gut. Also worauf wartest du, los geht’s, mon capitaine! Und sei nicht streng mit mir, wenn ich ein Wort vergesse.«
    »Du wirst sehen, ich bin erbarmungslos! Die Strafe wird furchtbar sein, sieh dich vor …« Und was tun sie? Lachen natürlich. Als wäre es eine unheilbare Krankheit.
     
    Luka besucht Dora bei den Proben.
    Ja, manchmal darf er das. Dann sitzt er im Zuschauerraum, ganz hinten, fast in der letzten Reihe, und hört ihr zu. Es fühlt sich an wie eine besondere Belohnung, auch wenn er kaum etwas versteht – er weiß selbstverständlich, worum es geht, aber er versteht nicht, was die Schauspieler auf der Bühne sagen! Allerdings stört ihn das nicht im Geringsten, denn er kann Dora zusehen, zuhören, sie bewundern, sogar ein wenig eifersüchtig sein auf den alten König, der sie am Ende sehr lange in den Armen halten darf. Eifersucht ist ein ganz neues Gefühl für Luka, vor allem wenn es um Frauen geht. Denn er erinnert sich noch sehr gut an Doras ersten Kindergartentag und ihre traumhafte, unvergleichliche, makellose Tasche, von der er nicht genug hat bekommen können. Da war er eifersüchtig. Wobei das eher Neid war. Ja, er wollte sie auch haben, es

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