Jeden Tag, Jede Stunde
Klara sieht nicht gut aus, sie ist mager, so als hätte sie zu schnell zu viel abgenommen, und blass, und ihre Augen sind gerötet und geschwollen. Sie ist verzweifelt. Dora aber hat kein Mitgefühl. Sie muss sich um sich selbst kümmern.
»Er liebt mich. Nur mich. Das wird sich nie ändern.«
»Ich bin die Mutter seines Kindes.«
»Na und. Er liebt mich. Und er liebt seine Tochter. Und Sie sollen aufhören, ihn zu erpressen.«
»Er ist mein Mann. Er hat mich geheiratet.«
»Weil Sie schwanger waren. Wie können Sie damit leben?!«
Klara fängt an zu weinen. Für Dora ist das zu viel. Außerdem kommen Leute vorbei und schauen zu. Sie bleiben nicht stehen, sie ziehen nur sehr, sehr langsam an den zwei Frauen vorbei. Tuscheln. Köpfe berühren sich. Wie auf einer Bühne kommt sich Dora vor. Und dennoch fühlt sie sich nicht wohl. Würde nichts lieber sehen, als dass der Vorhang sich schlösse.
»Ich liebe ihn aber! Was soll ich denn ohne ihn machen?!« Glücklicherweise ist Klara leise.
»Ich auch. Und er gehört mir.«
Dora sieht die andere Frau an, deren Gesicht vor Schmerz und Hass verzerrt ist. Es ist vorbei. Sie muss hier weg. Und sie wird Luka mitnehmen. Hier wird er verkommen. Ersticken.
Sie rennt los. Sie hat das Gefühl, nie wieder stehen bleiben zu können.
Am Abend ist sie aus Split zurück. Zufriedene Gesichter verlassen den Bus. Dora bekommt viel Trinkgeld. Sie verabschiedet sich vom Fahrer, der Bus fährt ab. Und da steht Luka. Und plötzlich ist alles, was sie den ganzen Tag zu vergessen versucht hat, wieder da. Luka lächelt sie schwach an. Er ist erschöpft, und seine Schultern hängen mutlos. Dora wünscht sich, sie wäre nicht ausgestiegen und der Bus hätte sie mitgenommen. In die Busgarage, wenn es sein muss. Egal. Nur weg von dieser Aussichtslosigkeit.
Luka umarmt sie wortlos. Arm in Arm bewegen sie sich fort von der Stadt und ihren Lichtern. Zum Felsen. Langes Schweigen, unterbrochen nur durch einige flüchtige Küsse. Ein Gefühl der Ohnmacht begleitet sie wie ein treuer Hund. Ihre Schritte sind vorsichtig. Manchmal zögernd. Und dann sitzen sie auf dem Felsen, ihrem geheimen Zuhause. Wo das Vergangene genauso präsent ist wie der jetzige Augenblick. Wo sich ihre Leben treffen, um sich zu vereinigen.
»Weiß du, dass man vor einigen Jahren hier in der Nähe eine Frauenleiche gefunden hat?«
»Ist nicht wahr! Ein Selbstmord?«
Es war ein langer Tag, für Luka offensichtlich auch, denn er sitzt einfach da und sieht sie an. Das Grün seiner Augen ist trüb, wässrig. Dora lehnt ihre Wange an seine.
»Nein. Jemand hat sie umgebracht.«
Es ist schon Nacht. Es wird kühl. Wolkenloser Himmel. Bald wird es Vollmond geben. Die Luft ist still. Und sie sitzen da wie ein Museumsbild.
»Ein Mord … Hier ist es doch so friedlich.«
»Ihr Mann war’s. Er hat sich der Polizei gestellt und gestanden. Er wollte sie loswerden.«
»Natürlich. Was sonst.«
Schweigen. Schweigen ist bekanntlich Gold. Vielleicht.
»Warum erzählst du mir das?«
»Das Motiv sei Liebe gewesen, stand in den Zeitungen, damals. Ich habe die Ausschnitte aufbewahrt.«
Luka spricht immer langsamer. Es war ein langer Tag. In jeder Hinsicht.
Der Mond leuchtet hell. Und das Wasser spiegelt sein Licht wider. Irgendwo in der blauen Dunkelheit kann man ein paar kleine Fischerboote erkennen. Einen Motor hören. Oder Ruderschläge im Wasser. Das Leben lässt sich nicht aufhalten.
Die Stille ist bezaubernd und anmutig und so unwirklich. Und auch wenn das Leben nicht aufzuhalten ist, kann es manchmal innehalten, sodass es aussieht, als stünde es still, als machte es eine Pause. Und in solchen Augenblicken sieht man sein Leben wie durch ein Fernglas. Je nachdem, wie man es hält, bekommt man den großen Überblick oder sieht jedes kleine Detail. Und kann staunen. Oder verzweifeln. Aufatmen. Sich gratulieren. Alles ist möglich.
»Darum geht es doch meistens, Liebe oder Geld.«
»Er liebte eine andere und seine Frau wollte ihn nicht gehen lassen. Er war verzweifelt. Wusste keinen Ausweg.«
»Und das soll einer gewesen sein? Eine Lösung?«
»Wie dem auch sei, sie war tot und er war frei.«
»Frei? Er musste ins Gefängnis, oder? Er hat sich doch gestellt, hast du gesagt?« Dora steht auf und läuft über den Felsen, wie einem unsichtbaren Muster folgend.
»Ja, aber er ist sie losgeworden. Dass er sich gestellt hat, ich meine, das hätte er nicht tun müssen, oder?« Luka sagt das zögernd, obwohl der Gedanke ihm
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