Jeden Tag, Jede Stunde
eine Bank, die vor langer Zeit einmal grün gestrichen war. Heute sieht man nur hier und da Reste der verblassten Farbe. Der Regen und die Leute, die sich hier ausgeruht haben, haben Spuren hinterlassen. Dora und Luka haben schon öfters darauf gesessen. Sie haben sich sogar darauf geliebt. Leidenschaftlich und kurz. Mit viel Gekicher. Es war etwas Verbotenes. Aber einmal hat Dora auf dieser Bank auch ein Buch gelesen. Grillen haben gezirpt. Kinder im Wasser gekreischt. Motorboote waren zu hören. Es ist ein hübscher und angenehmer Ort.
Luka springt vom Weg hinunter und hilft Dora beim Hinuntersteigen. Er führt sie nicht zur Bank, nein. Er duckt sich unter den Baum und stellt sich auf den Rand der kleinen Naturterrasse. Von dort aus kann man die Promenade nicht sehen. Man wird auch selbst nicht gesehen. Dora steht neben Luka. Sie muss sich an ihn lehnen, denn es gibt nicht genug Platz. Luka streckt die Hand aus und zeigt Dora, was er malen will. Mit den Daumen und Zeigefingern bildet er einen Rahmen, durch den das Bild zu sehen ist. Die Perspektive. Dora lässt ihre Hand über seinen Rücken gleiten. Sie lehnt den Kopf an seine Schulter. Luka redet voller Begeisterung, und in den kurzen Atempausen gibt er Dora einen Kuss. Die Sonne scheint warm, obwohl schon dem Meer zugeneigt. Das Meer, seinerseits, tänzelt herum in einem unnachahmlichen Rhythmus.
Es ist ein herrlicher Tag und ein entzückender Ort.
Also entführt Dora Luka ins Hotel. Und freut sich, dass ihr Zimmer belegt ist. Denn in einem Zimmer, das nicht ihres ist, lässt sich leichter reden. Man kann einen kühlen Kopf bewahren. Man kann Sätze aussprechen, ohne vor ihnen Angst haben zu müssen. Ein Hotelzimmer ist wie eine vergessene Filmkulisse. Tausende solcher Wörter kleben an den Wänden, knabbern an der Matratze, lecken an den Kacheln im Badezimmer, hängen an den durchsichtigen Vorhängen. Man kann sich alles vormachen. Man kann sich sein Leben neu erschaffen. Es ruinieren. Sich umbringen, ohne es zu merken. So tun, als wäre das für alle das Beste. Sich selbst davon überzeugen. So tun, als wäre man davon überzeugt. In einem Zimmer wie diesem. Ein Zimmer wie das andere.
»Ich fahre übermorgen nach Paris. Komm mit.«
»Ich kann nicht.«
»Was machen wir dann?«
»Ich kann nicht mehr.«
»Was soll das bedeuten?«
»Ich ertrage das nicht mehr.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich schaffe es nicht.«
»Du hast dich für sie entschieden?«
»Ich brauche Ruhe.«
»Statt Leben?«
»Mir fehlt der Mut.«
»Heißt das, du gibst uns auf?«
»Das heißt, ich bin ein Feigling.«
»Also lässt du mich gehen.«
»Ich möchte sterben.«
»Das kann uns beiden passieren.«
»Zwei Liebende im Glück kennen weder Ende noch Tod, / solange sie leben, werden sie vielfach geboren und sterben, / in ihnen wirkt Natur in ihrer Ewigkeit.«
»Das ist Scheiße.«
»Das ist Neruda.«
»Du hast kein Recht mehr, Neruda zu deklamieren.«
»Du bist mein Leben.«
»Und du stirbst.«
»Dora.«
»Für immer und ewig.«
… du musst dich selbst lieben um dir das glück zu gönnen um zu bleiben du musst stark sein verzichten ist leichter aufgeben ist leichter leiden ist leichter …
»Dora.«
30
»Beeil dich, zlato moje! Sonst verschlingt uns schlicht und ergreifend die Masse, und wir sehen nichts!«
Helena ist unruhig. Sie steht an der Tür zu Doras Schlafzimmer und macht sich Sorgen. Nicht darüber, dass sie vielleicht tatsächlich zu spät zur verhüllten Pont Neuf kommen. Nein. Das ist ihr in Anbetracht des Zustands ihrer Tochter völlig egal. Christo ist wichtig, ein Jahrhundertereignis, sicher, aber Dora ist ihr Ein und Alles. Und es geht ihr nicht gut, ganz und gar nicht gut. Und das ist noch eine Untertreibung.
Dora sitzt auf ihrem Bett und starrt ins Leere. Ihr Leben ist leer. Die Welt ist leer. Und sinnlos. Und grausam. Überflüssig. Unbrauchbar. Doras Kopf ist leer. Keine Gedanken. Sie haben sie alle verlassen vor drei Tagen. Ein paar Bilder, aber keine Grübeleien. Keine Betrachtungen oder Reflexionen. Gefühle darf sie nicht zulassen. Es ist ein sehr bewusster Akt. Nichts fühlen. Unter keinen Umständen. Verboten. Rote Gefahrlichter blinken ununterbrochen. Dora weiß nicht einmal, ob sie atmet. Wahrscheinlich schon. Sie schaut sich ihren Brustkorb an, ja, er bewegt sich, also: Es wird geatmet. Sie spürt es aber nicht. Sie hört ihre Mutter reden. Die Bedeutung der Worte erreicht sie nicht. Dora ist abwesend. In ihrem Leben, das es
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