Jeder kann mal Robin sein
gähnte schwarz. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Judy mit ihrer gräßlichen Phantasie!
Drinnen im Haus blieb sie vor der Nachbarwohnung stehen. Alles still. Schnell über den Flur! Als Oma öffnete, flitzte sie eilig durch die Tür. »Mach zu, Oma!«
Oma sah sie verwundert an. »Was ist denn?«
»Ach, nichts weiter. Mir ist bloß kalt. Wo steckt Max? Ich muß ihm was sagen.«
»Guck mal in seinem Zimmer nach! Ich geh und mach Abendbrot.«
Vor der Küchentür drehte Oma sich noch einmal um. »Ach ja, hätte ich fast vergessen, schönen Gruß auch von Opa.«
»Danke. Hat er dich angerufen?«
»Nein. Ich ihn!« Ohne weitere Erklärung verschwand Oma in der Küche.
Tine machte die Tür zum Kinderzimmer auf. Alles dunkel. »Max?«
Keine Antwort. Tine knipste das Licht an. Max hockte auf dem Bettvorleger.
»He! Warum antwortest du nicht?«
»Weil ich nicht will.«
»Und warum willst du nicht?«
»Darum!«
Tine bückte sich und wollte ihn hochziehen, da fing er mit Armen und Beinen an zu strampeln.
»He! Eulenschrei und Unkenglüh! Was ist denn mit dir los?«
Max bohrte den Kopf in sein Kuschelkissen. »Ich will zu Mama!«
»Spinnst du? Die ist in New York!«
»Aber sie kommt bald! Dauert gar nicht mehr lange.«
Oma stand in der Tür.
Tine sah zu ihr auf. »Weißt du, was er hat?«
»Ich glaube, ja.« Oma trat ins Zimmer. »Als du bei Judy warst, hatte ich Lust, mal mit Opa zu reden. Da hab ich ganz vergessen, Max an den Apparat zu holen. Aber das können wir ja nachholen. Komm!« Oma zog Max am Arm. »Nun sei man nicht bockbeinig, wir rufen einfach noch mal an.«
Tine wunderte sich. »Oma, ist das nicht zu teuer?«
Oma sah sie mit großen Augen an. »Nein, das ist nicht zu teuer.«
Sie nahm Max beim Arm, wählte und drückte ihm den Hörer in die Hand. »Nun mal los! Schnackt ihr beiden Männer ’n bißchen miteinander.«
Sie hakte Tine unter und verschwand mit ihr in der Küche.
Als Max zum Abendbrot erschien, sah er sehr zufrieden aus. Beim dritten Wurstbrot hob er den Kopf. »Du, Oma!«
»Ja?«
»Opa meint, du hast ’n bißchen Heimweh.«
Oma runzelte die Stirn. »Hat Opa das gesagt? Was dem so alles einfällt ! « Sie rührte heftig mit dem Löffel in der Tasse herum.
»Ich auch«, sagte Max leise.
Oma hörte auf zu rühren. »Kann ich verstehn.«
Tine sah von einem zum anderen. »Na, ihr seid mir vielleicht zwei. Heimweh! Da hab ich ganz andere Sorgen.« Sie deutete mit dem Daumen zur Wand. »Wegen nebenan. Jetzt geht’s richtig los.« Sie zog zwei Zettel aus ihrer Jeanstasche. »Hier ist dein Zettel, Oma. Judy hat alles aufgeschrieben. Von nun an hat jeder strammen Dienst. Immer rund um die Rosenburg. Und hier ist dein Zettel, Max.«
Max verzog das Gesicht. »Ich kann doch nicht lesen.«
»Guck erst mal richtig hin! Das da kannst du bestimmt lesen. Ja, ja, die Judy. Köpfchen, Köpfchen!«
Max betrachtete den Zettel, und sogleich hellte sein Gesicht sich auf. »Guck mal, Oma. Judy hat alles für mich gezeichnet. Mit Kreuzen und Männchen und Strichen. Klar, das Männchen, das bin ich. Und das geht die Rosenstraße auf und ab. Seht ihr, ich kann beinahe schon lesen.«
»Und du, Oma, hast du deinen Zettel auch studiert?«
»Alles klar, Tine. Ich hab Innendienst. Muß den Hof überwachen.« Sie lachte. »Na, nun kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.«
Am nächsten Tag schien es zunächst recht langweilig zu werden. Frau Beck war nicht zu erreichen, und obwohl Oma immer wieder auf den Hof hinunterschaute und Max unermüdlich die Rosenstraße überwachte, ereignete sich nichts, rein gar nichts. Bis kurz vor zwölf.
Zuerst läutete das Telefon: Gisela aus New York. Noch keine drei Worte hatte Oma mit ihrer Tochter gewechselt, da erscholl im Treppenhaus lautes Getöse. Rufe, Schritte, Koffer, die über den Boden geschleift wurden.
Oma stutzte. Nur einen Augenblick, dann rief sie ins Telefon: »Gisela, ich kann jetzt nicht. Es geht los, ruf noch mal an! Kann ich dir jetzt nicht erklären. Bis gleich!«
Einhängen, ins Wohnzimmer laufen, beobachten, was draußen auf der Straße vor sich ging. Sie sah alles gleichzeitig: den bärtigen Mann, der gerade einen Koffer in den Gepäckraum des roten Autos bugsierte, die Frau von nebenan im Mantel, die dem Mann einen zweiten Koffer reichte, Max, der sich hinter einem Baum versteckt hatte.
Dann stieg die Frau ein, das Auto fuhr an, Max schoß hinter dem Baum hervor und rannte mit hocherhobenen Armen hinter dem Auto her.
Oma
Weitere Kostenlose Bücher